«Der Fortschritt in den Sozialwissenschaften ist weniger greifbar als in den Naturwissenschaften»

KOF-Ökonom Andrin Spescha, Autor des Buches «False Feedback in Economics», spricht im Interview über die methodischen Grundsatzprobleme der Wirtschaftswissenschaften und mögliche Auswege.

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Sie schreiben in Ihrem Buch «False Feedback in Economics», dass die Wirtschaftsforschung anders als Wissenschaften mit praktischen Aspekten wie die Physik oder die Medizin kaum Fortschritte gemacht hat. Aber hat nicht die Ökonomie durch immer ausgefeiltere statistische Methoden und den Einsatz von künstlicher Intelligenz in den letzten Jahren doch spürbare Fortschritte gemacht? Und ist es nicht auch ein Fortschritt, dass wir im 20. Jahrhundert gelernt haben, dass der Kommunismus als Wirtschaftssystem nicht so effizient wie eine Marktwirtschaft ist?

Es gibt Fortschritt in der Wirtschaftsforschung. Oft verläuft dieser Fortschritt schubweise, wie beispielsweise bei den Lerneffekten durch den Untergang des Kommunismus. Aber der Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften und allen anderen Sozialwissenschaften ist in der Regel langsamer und weniger greifbar als in den Naturwissenschaften. Vor allem in den technologisch orientierten Wissenschaften ist der Fortschritt offensichtlich: Man sieht sofort, dass ein neues iPhone besser und leistungsfähiger ist als das alte Modell. Aber in der Ökonomie sind wir im allgemein akzeptierten Kanon immer noch nicht viel weiter als 1776, dem Jahr als Adam Smith sein Hauptwerk «Der Wohlstand der Nationen» veröffentlicht hat.

Aber was Isaac Newton 1686 in seinem Werk «Die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie» veröffentlicht hat, gilt doch auch grösstenteils noch heutzutage in der Physik.

Ja. Aber Newtons Mechanik wurde durch Albert Einsteins Relativitätstheorie und darauf aufbauende Forschung enorm verbessert und verfeinert. Einen vergleichbaren Fortschritt in den Wirtschaftswissenschaften können wir seit Adam Smith nicht beobachten. Selbst der oben erwähnte Lerneffekt aus der Wirtschaftsgeschichte beim Systemvergleich «Kommunismus versus Kapitalismus» ist nicht so eindeutig, wie er auf den ersten Blick scheint. Radikal linke Ideen werden zunehmend wieder salonfähig. Während falsifizierte Theorien in der Physik nur noch in den Geschichtsbüchern vorkommen, ist dies in der Ökonomie nicht der Fall. Alte, eigentlich als überholt geltende Ideen tauchen in den Wirtschaftswissenschaften oft wieder in neuer Form auf.

Warum wächst das Wissen in den Naturwissenschaften schneller und spürbarer als in den Sozialwissenschaften?

Naturwissenschaften arbeiten zumeist mit physischen Gegenständen und Technologien; empirische Sozialwissenschaften mit Daten. Die Arbeit mit physischen Gegenständen unterscheidet sich fundamental von der Arbeit mit Daten. Physische Gegenstände ermöglichen wahres Feedback. Das heisst, man weiss immer, ob und wie beispielsweise eine neu erarbeitete Technologie tatsächlich besser ist als die bisherigen. Wenn ein angewandter Forscher an einem konkreten Objekt wie einem Roboter arbeitet, weiss er, ob sein Ansatz, das Objekt zu verbessern, funktioniert oder eben nicht. Die direkte physische Interaktion mit dem Roboter produziert kontinuierlich wahres Feedback auf seine Arbeit. So kann der angewandte Wissenschafter Schritt für Schritt Fortschritt erreichen, der sich dann im Aggregat in besseren Technologien niederschlägt.

«Empirische Studien geben in der Ökonomie zu oft falsche Antworten auf die eigentlichen Fragestellungen. Es ist sogar für erfahrene Wissenschafter und Wissenschafterinnen schwierig, diejenigen Studien zu erkennen, welche die Realität akkurat wiedergeben.»
Andrin Spescha, Postdoktorand im Forschungsbereich Innovationsökonomik

Die Datenwelt in der Ökonomie hingegen ist sehr anfällig für falsches Feedback. Mit «Feedback» ist diesem Fall nicht das Feedback von Fachkollegen gemeint, sondern die Rückmeldung, welche die Datenanalyse und die Auswertung dem Forschenden geben. Empirische Studien geben in der Ökonomie zu oft falsche Antworten auf die eigentlichen Fragestellungen. Dies trifft natürlich bei Weitem nicht auf alle Studien zu. Es ist jedoch sogar für erfahrene Wissenschafter und Wissenschafterinnen schwierig, diejenigen Studien zu erkennen, welche wahres Feedback liefern, das heisst Studien, welche die Realität akkurat wiedergeben.

Woran liegt es, dass es in der Ökonomie so viele konkurrierende Theorien gibt?

Die meisten Forschungsfelder sind einfach extrem umstritten. Es gibt nur in wenigen Forschungsfeldern eine klare, unumstrittene Position. Viele Studien sind nicht miteinander kompatibel. Das heisst nicht zwingend, dass sie sich direkt widersprechen. Aber sie kommen in derselben Forschungsfrage zu verschiedenen Antworten und lassen sich nicht miteinander in Einklang bringen.

Aber könnte man diesen Theorienwettbewerb nicht auch positiv bewerten, weil er im Idealfall Pluralität, Vielfalt, Konkurrenz und eine Debattenkultur in die Wirtschaftswissenschaften bringt, ohne dass eine vorherrschende Ideologie den Diskurs dominiert?

Ja. Das kann man so sehen. Der Wettbewerb macht die Forschung lebendiger. Aber die Debatten sind oft langwierig und zäh. In der Physik gibt es zum Beispiel niemanden, der eine fundamentale Gegenposition zu Newton einnimmt. Newtons Mechanik kann ja als Spezialfall von Einsteins Relativitätstheorie interpretiert werden. In den Naturwissenschaften gibt es viel mehr stabile Theorien und kanonisiertes Wissen. Das hat den Vorteil, dass man sich in der Forschung auf diese theoretischen Fundamente stützen kann, was nicht ausschliesst, dass diese Fundamente im Lauf der Zeit an den Rändern verbessert werden. Ohne solche stabilen Fundamente ist wissenschaftlicher Fortschritt schwierig. Man führt endlose Debatten und dreht sich im Kreis. Das Extrembeispiel ist die Philosophie. Dort drehen sich die Debatten selbst heutzutage noch um Themen, die Platon und Aristoteles vor fast 2500 Jahren aufgeworfen haben.

Wäre es ein Ausweg, in der Ökonomie mehr Experimente zu machen, wie in den Naturwissenschaften gang und gäbe ist?

Prinzipiell sind Experimente eine gute Sache und die Ökonomie hat in diesem Bereich in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht. Aber Experimente lösen nicht das Grundsatzproblem der Sozialwissenschaften. Die Psychologie macht seit Jahrzehnten Experimente, macht aber auch keine mit den Naturwissenschaften vergleichbare Fortschritte. Entscheidend ist nicht, dass es weniger Experimente gibt in der Ökonomie, sondern, dass die Naturwissenschaften zumeist mit physischen Technologien arbeiten, die man direkt sehen und anfassen kann, wie zum Beispiel Autos, Roboter, Smartphones oder Maschinen. Physische Technologien ermöglichen ein wahres Feedback, da man immer weiss, wo man gerade steht. Entweder es funktioniert oder eben nicht. Da die Naturwissenschaften, vor allem die Physik als Naturwissenschaft par excellence, auf physischen Technologien aufbauen, können sie sich auch sehr schnell entwickeln. In den Wirtschaftswissenschaften arbeitet man dagegen nicht mit physischen Technologien, wodurch sich ein riesiger Raum für falsches Feedback eröffnet. Die Arbeit mit Daten führt zu diesen Problemen, nicht die Arbeit mit nicht experimentellen Daten. Experimente mit Gegenständen sind etwas, das es für den Erfolg braucht. Sobald man nur noch Daten hat, auch wenn es experimentelle Daten sind, und nichts Physisches zur Hand hat, eröffnen sich die Probleme des falschen Feedbacks.

«Es gibt einen Fehlanreiz in der Art, wie wir Ökonomen publizieren. (...) Forschende versuchen mit aller Macht, in ihren Daten nach Signifikanz zu suchen, was statistisch nicht in Ordnung ist.»
Andrin Spescha, Postdoktorand im Forschungsbereich Innovationsökonomik

Welche Rolle spielen institutionelle Faktoren für den langsamen wissenschaftlichen Fortschritt in der Ökonomie?

Es gibt einen Fehlanreiz in der Art, wie wir Ökonomen publizieren. Es ist nämlich so, dass Fachzeitschriften in der Regel nur Studien mit statistisch signifikanten Resultaten publizieren. Das gibt Forschern einen Anreiz, mit aller Macht in ihren Daten nach Signifikanz zu suchen, das sogenannte P-Hacking, was statistisch nicht in Ordnung ist.

Wäre es dann eine gute Idee, in der Forschung weg von der Datenanalyse zu gehen und stärker theoretisch zu arbeiten?

Nein. Man braucht Theorie und Empirie. Ohne Empirie sind wir wieder in einem Bereich wie die String-Theorie in der modernen theoretischen Physik. Die String-Theorie ist hochinteressant, lässt sich aber empirisch nicht überprüfen und führt wieder zu endlosen Diskussionen. Ohne Theorie hat man dagegen überhaupt keine Leitlinie, in welche Richtung die Forschung gehen soll. Im Idealfall sollte es ein dynamisches Zusammenspiel zwischen Theorie und Empirie geben.

Wäre es ein Ausweg, stärker mit qualitativen Fallstudien anstatt mit Zahlen und Daten zu arbeiten?

Fallstudien sind in der Ökonomie nicht üblich. Das macht man eher in der Betriebswirtschaftslehre oder in den Politikwissenschaften. Aus meiner Sicht würden Fallstudien das Problem nicht lösen. In der Regel hat man bei Fallstudien nur ganz wenige Beobachtungen, wenn man zum Beispiel zwei Länder miteinander vergleicht. Wir Ökonomen setzen lieber auf grosse Samples, zum Beispiel mit 100 oder noch mehr Ländern. Die Verwendung der Statistik in der Ökonomie ist eine gute Sache, es gilt einzig, das Ganze besser umzusetzen.

Ihr Buch trägt den Untertitel «The Case for Replication». Warum ist die Replikation von Studien so wichtig?

Wenn Wissenschafter wissen, dass ihre Studien durch unabhängige Dritte repliziert werden, werden sie vorsichtiger und geben sich mehr Mühe. Gut durchgeführte Replikationen sind ein wirksames Instrument gegen das oben erwähnte P-Hacking. Entscheidend ist, dass eine Studie mehr Gewicht hat, wenn mehrere Forscher unabhängig voneinander zum selben Ergebnis kommen. So kann man zu kanonisiertem Wissen und dadurch zu mehr Stabilität in der Wirtschaftsforschung kommen.

Warum werden trotzdem die wenigsten Studien repliziert?

Man kann mit Replikationen nicht viele Lorbeeren ernten. Wenn man in der Ökonomie Karriere machen will, muss man eine neue Methode anwenden und ein neues Forschungsfeld bearbeiten. Eine Replikation ist aber per definitionem nicht neu. Deshalb gibt es keinen Anreiz für einen Forscher, Studien von anderen Forschern zu replizieren.

Kann Wissenschaft jemals Wahrheit erreichen?

Wahrheit ist eine hilfreiche «regulative Idee», auch wenn wir sie wahrscheinlich niemals erreichen werden. Für post-moderne Theoretiker wie Thomas Kuhn oder Jean-François Lyotard gibt es so etwas wie Wahrheit nicht. Aber viele namhafte Philosophen wie zum Beispiel Karl Popper oder die Logischen Empiristen halten an dem Konzept fest. Ich persönlich finde den Begriff «Wahrheit» sinnvoll und würde ihn nicht über Bord werfen wollen. Die Wahrheit bleibt das anzustrebende Ziel.

Andrin Spescha ist Postdoktorand im Forschungsbereich Innovationsökonomik. Sein Hauptforschungsgebiet sind die Determinanten von Investitionen in Forschung & Entwicklung. Die philosophische und methodische Kritik der Wirtschaftsforschung hat er sich in den letzten Jahren als zweites Standbein aufgebaut. Sein Buch «False Feedback in Economics: The Case for Replication» ist 2021 in der Routledge-Reihe «Studies in Economic Theory, Method and Philosophy» erschienen. Eine Zusammenfassung des Buches finden Sie hier.

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