Was die Wirtschaftsforschung von den Naturwissenschaften unterscheidet

KOF-Ökonom Andrin Spescha setzt sich in seinem Buch «False Feedback in Economics: The Case for Replication» kritisch mit den methodologischen und wissenschaftsphilosophischen Grundlagen der Ökonomie und anderer Sozialwissenschaften auseinander.

Vernetzung

Wenn man sich die rasanten Fortschritte in gewissen Naturwissenschaften vor Augen hält, scheint der Fortschritt in der Ökonomie und in anderen Sozialwissenschaften im Vergleich dazu viel geringer. Die angewandte Forschung in den Naturwissenschaften liefert uns beispielsweise immer bessere Computer, Roboter, Software und mittlerweile sogar eigentlich für unmöglich gehaltene Dinge wie selbstfahrende Autos. Es ist den Naturwissenschaften auch gelungen, innert kürzester Zeit einen Corona-Impfstoff zu entwickeln. In der Ökonomie hingegen fällt es einem schwerer, einen klaren Fortschritt zu erkennen. In den Wirtschaftswissenschaften gibt es zu fast allen Fachfragen – vom Mindestlohn über die Geldpolitik bis zur Entwicklungsökonomik – mindestens zwei verschiedene, sich widersprechende Forschungspositionen. Die Methoden ändern sich über die Zeit, aber ob die Ökonomie mit ihren Forschungspapieren die ökonomische Realität zunehmend besser abbilden kann, ist nicht eindeutig.

Das Feedback in den Naturwissenschaften ist eindeutiger und direkter als in den Sozialwissenschaften

In seinem Buch «False Feedback in Economics: The Case for Replication» führt KOF-Ökonom Andrin Spescha diesen Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und der Ökonomie darauf zurück, dass die Naturwissenschaften zumeist mit physischen Gegenständen und Technologien arbeiten. Die Arbeit mit physischen Gegenständen unterscheidet sich fundamental von der Arbeit mit Daten. Physische Gegenstände ermöglichen wahres Feedback, das heisst, man weiss immer, ob und warum beispielsweise eine neu erarbeitete Technologie tatsächlich besser ist als die bisherigen. Wenn ein angewandter Forscher an einem konkreten Objekt wie einem Roboter arbeitet, weiss er, ob sein Ansatz, das Objekt zu verbessern, funktioniert oder eben nicht. Die direkte physische Interaktion mit dem Roboter produziert kontinuierlich wahres Feedback auf seine Arbeit. So kann der angewandte Wissenschafter Schritt für Schritt Fortschritt erreichen, der sich dann im Aggregat in besseren Technologien niederschlägt.

Die Datenwelt in der Ökonomie hingegen ist sehr anfällig für falsches Feedback. Damit ist diesem Fall nicht das Feedback von Fachkollegen gemeint, sondern die Rückmeldung, welche die Datenanalyse und Auswertung dem Forschenden geben. Empirische Studien geben in der Ökonomie zu oft falsche Antworten auf die eigentlichen Fragestellungen. Dies trifft natürlich bei Weitem nicht auf alle Studien zu. Es ist jedoch sogar für erfahrene Wissenschafter schwierig, diejenigen Studien zu erkennen, welche wahres Feedback liefern, das heisst, Studien, welche die Realität akkurat wiedergeben. Die Forschenden wissen somit nicht genau, wo sie stehen in ihren Bemühungen und es wird schwierig, Fortschritt zu erreichen. «Wissen kann nur dann wachsen, wenn sich die Forscher auf wahres Feedback verlassen können; sie brauchen wahre Antworten darauf, wie sich ihre vorgeschlagenen Hypothesen zur empirischen Realität verhalten», schreibt Spescha. Nur so werde ersichtlich, in welche Richtung sich die Wissenschaft bewegen muss, um Fortschritte zu erzielen. Die Frage, warum es in der Ökonomie oft zu falschem Feedback kommt und wie man diese Situation verbessern kann, behandelt Spescha in seinem Buch, das in der Routledge-Reihe «Studies in Economic Theory, Method and Philosophy» erschienen ist.

Der Vergleich von verschiedenen Studien ist in der Ökonomie oft schwierig bis unmöglich

Was empirische Sozialforschung – sei es in den Wirtschaftswissenschaften, den Politikwissenschaften oder der Soziologie – so komplex macht, ist, dass jede Studie auf einer riesigen Anzahl, zumeist impliziter, Nebenannahmen basiert. Zudem arbeiten verschiedene Studien mit diversen empirischen Ansätzen und in verschiedenen Forschungsumgebungen, so dass der Vergleich der Studien in Hinblick auf den Wahrheitsgehalt oft schwierig oder gar unmöglich ist (der amerikanische Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn hat dafür den Begriff «Inkommensurabilität» geprägt). So ist bei sich widersprechenden empirischen Studien die eine Seite oft nicht sichtbar näher an der Realität als die andere. Falsche Theorien lassen sich darum – anders als in den Naturwissenschaften – nur schwer nach dem Prinzip «Versuch und Irrtum», das für den Wissenschaftsphilosophen Karl Popper idealtypisch Wissenschaft charakterisiert und auch das zentrale Element für Fortschritt ist, widerlegen und aussortieren.

Das Hauptproblem, welches in den Wirtschaftswissenschaften (und anderen empirischen Sozialwissenschaften) für ein falsches Feedback sorgt, ist gemäss der Analyse Speschas die grosse Anzahl von Möglichkeiten, die Wissenschafter und Wissenschafterinnen bei der Wahl ihrer Forschungsmethode und Datenanalyse haben. Wie Grafik G 7 beispielhaft aufzeigt, kann ein Forschungsansatz nur schon in der Datenanalyse in den verschiedensten Dimensionen variieren. Wie in der Kurzgeschichte «Der Garten der Pfade, die sich verzweigen» des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges gibt es bei einem Forschungsprojekt zahlreiche Weggabelungen, bei denen Forscher entscheiden können, in welche Richtung sie methodisch gehen, oft ohne die Gründe für ihre Entscheidung explizit machen zu müssen. So haben Forscher bei jedem der in Grafik G 7 aufgezeigten Weggabelungen einen grossen Spielraum. Jede der getroffenen Entscheidungen kann jedoch potenziell grosse Auswirkungen auf die Resultate haben, so dass die Resultate je nach Forscher und seinem Ansatz stark variieren können.

G 7

Diese gezeigten 18 Weggabelungen tauchen in den Sozialwissenschaften in den meisten empirischen Studien auf, wobei die Tabelle nicht vollständig ist. Bei diesen 18 Weggabelungen in der Tabelle lassen sich beispielsweise bei nur drei Optionen je Weggabelung 318 = 378.420.489 verschiedene Forschungspfade gehen, was die Vergleichbarkeit von empirischen Studien enorm erschwert. Dies bedeutet, dass die Hypothesen eines Sozialwissenschafters nicht isoliert getestet werden können, da sie in einem Netz von impliziten Annahmen und Überzeugungen eingebettet sind (Duhem-Quine-These).

Forschende sollten mehr Wert auf die Replikation von Studien legen

Aufbauend auf diesen wissenschaftsphilosophischen Überlegungen, plädiert Spescha in seinem Werk für mehr Transparenz in der empirischen Wirtschaftsforschung. Statt nur eines ausgefeilten wissenschaftlichen Artikels sollten Ökonomen und Ökonominnen zusätzlich ihre Daten und Programmiercodes veröffentlichen, damit andere Forschende versuchen können, diese Studie zu replizieren. Denn nur so können implizite methodische Entscheidungen nachvollzogen und hinterfragt werden. Dies sei wichtiger, als immer neue Studien zu verfassen, wie es heute gängige Wissenschaftspraxis ist, schreibt Spescha in seinem Abschlusskapitel. «Anstatt einen ständigen Strom von wissenschaftlichen Beiträgen zu produzieren, die oft nicht wirklich neu sind, sollten wir unsere Bemühungen besser darauf konzentrieren, die wirklich besten Studien richtig durchzuführen. Wir müssten den Aufbau dieser wichtigsten Studien systematisch und sinnvoll variieren, so dass wir Erkenntnisse über ihre Stärken und Schwächen gewinnen.» Sollte es gelingen, auf diese Weise robustes und wahres Feedback auf die eigentlichen Fragestellungen zu generieren, werde sich auch der Fortschritt wieder einstellen.

Literaturhinweis

Spescha, Andrin (2021): False Feedback in Economics: The Case for Replication. Routledge.

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