Langfristige Einwanderungserfahrungen schwächen nationalistische Parteien

Die Zustimmung zu ausländerfeindlichen Meinungen unterscheidet sich in vielen Ländern erheblich von Region zu Region. Gerade in Gegenden ohne grossen Ausländeranteil ist sie oft am stärksten ausgeprägt. Eine neue Studie zeigt nun, dass fehlende Erfahrungen mit Zuwanderung vor Ort dafür mitverantwortlich sind. Regionen, die in der Vergangenheit grössere Erfahrungen mit Einwanderung und Integration gemacht haben, reagieren auf neuerliche Einwanderungswellen deutlich weniger ablehnend.

Nationalistische Parteien erfahren in vielen Ländern immer mehr Zustimmung. Obwohl eine ganze Reihe von Entwicklungen zu diesem Trend beitragen, sticht ein Thema klar heraus: Einwanderung. Ob die SVP in der Schweiz, die AfD in Deutschland, der Rassemblement National in Frankreich oder die Fratelli d’Italia: Die Unterstützenden dieser Parteien eint ihre skeptische Haltung gegenüber Einwanderung. Nicht umsonst haben sie während jüngster Flüchtlingskrisen verstärkt Zulauf erhalten und mehrere Studien finden eindeutige Zusammenhänge zwischen den Stimmenanteilen nationalistischer Parteien und Immigration (siehe bspw. Dustmann et al., 2019; Hangartner et al., 2019).

Obwohl nationalistische Parteien in Europa somit immer erfolgreicher werden, wäre es zu einfach, von einem gesamtgesellschaftlichen Trend hin zu einer allgemeinen Migrationsskepsis zu sprechen. Ganz im Gegenteil: Der Zuspruch zu nationalistischen Parteien unterscheidet sich stark zwischen Bevölkerungsgruppen und Regionen. Während Nationalisten beispielsweise in manchen ländlich geprägten und wirtschaftlich schwächeren Regionen vieler europäischer Länder teils absolute Mehrheiten erreichen, kommen sie in vielen Städten nicht über einstellige Stimmenanteile hinaus. Hier wird nationalistische Politik oft klar abgelehnt und Einwanderung erhält Zuspruch. Wo liegen nun aber die Ursachen für diese gesellschaftliche Polarisierung? Warum sind politische Einstellungen zu Einwanderung regional so unterschiedlich?

Dieser Frage widmet sich eine neue Analyse von Stephan Schneider (KOF, ETH Zürich) und Valentin Lang (Universität Mannheim). Die beiden Politökonomen vermuten, dass langfristige Erfahrungen mit Einwanderung eine entscheidende Rolle spielen. Gegenden, in denen die Wähler oder deren Vorfahren in der Vergangenheit bereits intensive Erfahrungen mit Einwanderung machen konnten, reagieren möglicherweise anders auf aktuelle Einwanderung als Menschen in Gegenden, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben. Einfach ausgedrückt: Aus Erfahrung lässt sich lernen.

Ungleiche Verteilung der deutschen Heimatvertriebenen als natürliches Experiment

Um diese Hypothese zu untersuchen, analysierten die Forscher Wahlergebnisse über einen Zeitraum von knapp 100 Jahren in den Gemeinden einer Region, die für diese Untersuchung ein ideales Laboratorium darstellt: den an die Schweiz grenzenden Südwesten Deutschlands. Diese Region, das heutige Baden-Württemberg, war nämlich für wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in eine französische und eine US-amerikanische Besatzungszone aufgeteilt. Als nach dem Krieg mehr als zehn Millionen deutschsprachige Menschen aus den ehemaligen Ostgebieten und anderen Teilen Osteuropas innerhalb kurzer Zeit fliehen mussten, nahmen im Südwesten nur die Amerikaner diese Heimatvertriebenen in ihrer Besatzungszone auf. Die französischen Besatzer weigerten sich.

Wie Grafik G 3 zeigt, führte dies dazu, dass der Anteil an Eingewanderten nördlich und südlich der Grenze zwischen den beiden Besatzungszonen sehr unterschiedlich war. Im Norden lag der Bevölkerungsanteil der zugewanderten Heimatvertriebenen bei teils über 20%. Da diese Grenze künstlich und nur für einige Jahre entlang der deutschen Autobahn A8 gezogen wurde, sind die sie umgebenden Regionen sehr gut vergleichbar. Sie unterscheiden sich nur darin, dass sich im Norden sehr viel mehr Heimatvertriebene als im Süden ansiedelten. Das erlaubt es, die kausalen Auswirkungen dieser historischen Einwanderung mit statistischen Methoden zu untersuchen.

Die Studie vergleicht nun die Wahlergebnisse aller deutschen Bundestagswahlen in den Gemeinden nördlich und südlich dieser ehemaligen Grenze, die seit 1949 keine Bedeutung mehr hat. Als statistische Methode nutzen die Autoren ein räumliches Regression Discontinuity Design, das den Effekt entlang der Grenze isoliert, indem es andere mögliche Einflussfaktoren statistisch ausschliesst. Es zeigt sich, dass die nationalistische AfD bei den letzten bundesweiten Wahlen von 2021 in den Gemeinden südlich der ehemaligen Grenze deutlich mehr Stimmen erhielt als nördlich der Grenze, wo sich in den 1940er-Jahren mehr Vertriebene ansiedelten. Laut Schätzung erhielt die AfD nördlich des damaligen Grenzverlaufs über 1,5 Prozentpunkte weniger Stimmen, was bei einem Gesamtstimmenergebnis von etwa 10% in Baden-Württemberg einen massgeblichen Anteil darstellt. Dieser Effekt ist auch in früheren Wahlen und besonders dann zu beobachten, wenn der aktuelle Einwanderungszustrom besonders hoch ist. Grafik G 4 zeigt dieses Ergebnis: Gemeinden knapp nördlich der Besatzungszonengrenze, also jene mit stärkerem Vertriebenenanteil, stimmen weniger für nationalistische Parteien, wenn es aktuell – wie zum Beispiel zur Zeit der Europäischen Flüchtlingskrise – mehr Einwanderung vor Ort gibt.

Weitergabe von Erfahrungen in Familien und kollektives Gedächtnis

Um weiter zu untersuchen, wie es zu diesen Ergebnissen kommt, führten die Autoren der Studie eine repräsentative Umfrage unter 3000 Menschen in Baden-Württemberg durch. In den Ergebnissen der Umfrage wird deutlich, dass der beobachtete Zusammenhang zum einen auf die Einstellungen der Nachfahren der Heimatvertriebenen zurückzuführen ist. Diese äussern sich im Schnitt deutlich einwanderungsfreundlicher und weniger nationalistisch; und das, obwohl die Heimatvertriebenen in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland gemeinhin politisch rechts der Mitte verortet werden.

Gleichzeitig zeigt die Umfrage aber auch, dass der Effekt auch bei Menschen beobachtet werden kann, die keine direkten Nachfahren der Heimatvertriebenen sind. Allein die Erinnerung an die historische Erfahrung mit dem Zustrom der Heimatvertriebenen führt zu einwanderungsfreundlicheren Antworten – sogar bei Menschen, die diese Episode nur aus Erzählungen kennen. Tatsächlich finden sich in den Daten sogar Hinweise, dass langfristige regionale Wachstumseffekte dieser Einwanderungswelle von den Befragten positiv wahrgenommen werden. Offenbar haben somit sowohl Vertriebene als auch Einheimische gute Erfahrungen mit Einwanderung gemacht und diese Erfahrungen an ihre Nachfahren weitergegeben. Deshalb sind diese auch der derzeitigen Einwanderung gegenüber positiver gestimmt, obwohl sich die Migranten von damals und heute in vielerlei Hinsicht stark unterscheiden.

Die Ergebnisse zeigen somit, dass eine Erklärung für die oft stark polarisierte Sichtweise auf Einwanderung in der Vergangenheit zu finden ist. Menschen, die kaum Erfahrung mit grossen Einwanderungswellen haben, reagieren in der kurzen Frist häufig ablehnend auf Immigration. Zu gross sind die Sorgen vor wirtschaftlichen Problemen und sozialen Spannungen. In der langen Frist wird vergangene Einwanderung dagegen häufig positiver bewertet als zunächst erwartet und die Migrationsskepsis geht dort, wo solche positiven Erfahrungen gemacht werden konnten, zurück.

Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Studie diese Schlussfolgerungen aus einem Kontext zieht, in dem die Integration von Zuwanderern mit ähnlichem kulturellem Hintergrund nachweislich erfolgreich war. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Ergebnisse durchwegs zeigen, dass die Wähler frühere Einwanderungserfahrungen mit der aktuellen Einwanderung in Verbindung bringen, auch wenn die Integration von aktuellen Einwanderern mit anderem kulturellem Hintergrund mit mehr gesellschaftlichen Reibungen verbunden sein mag. Angesichts der Tatsache, dass Vergangenheitserfahrungen in verschiedenen Kontexten und über lange Zeiträume hinweg nachwirken, ist die erfolgreiche Integration von Zuwanderern von grosser Bedeutung, da ihre politischen Folgen noch Jahrzehnte später spürbar sind.

Quellen

Hangartner, Dominik, Elias Dinas, Moritz Marbach, Konstantinos Matakos, & Dimitrios Xefteris (2019): Does Exposure to the Refugee Crisis Make Natives More Hostile? American Political Science Review 113.2, pp. 442–455.

Dustmann, Christian, Kristine Vasiljeva, & Anna Piil Damm (2019): Refugee Migration and Electoral Outcomes. The Review of Economic Studies 86.5, pp. 2035–2091.

Lang, Valentin & Stephan A. Schneider (2023): Immigration and Nationalism in the Long Run. Working Paper. externe Seitehttps://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=4212484

Ansprechpersonen

Dr. Stephan A. Schneider
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
  • LEE F 204
  • +41 44 632 48 10

Professur f. Wirtschaftsforschung
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Valentin Lang

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