Fortschritte bei der Lebenserwartung und der Ungleichheit der Lebensdauer in der Schweiz seit den 1870er-Jahren

In den letzten 140 Jahren stieg die Lebenserwartung der Frauen in der Schweiz von 58.4 Jahren (1876) auf 85.6 Jahre (2016). Die Lebenserwartung der Männer stieg von 56.3 Jahren im Jahr 1876 auf 81,9 Jahre im Jahr 2016. Der grösste Teil dieser Zuwächse ist darauf zurückzuführen, dass ein grösserer Anteil der Schweizer Bevölkerung ein höheres Alter erreicht, während ein kleiner Rest der Zuwächse auf einen Anstieg des Alters selbst zurückzuführen ist.

Die Lebenserwartung (LE) ist definiert als das Alter, das eine Person eines bestimmten Alters voraussichtlich erreichen wird, basierend auf den altersspezifischen Sterblichkeitsraten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt vorherrschen. Da die LE auf den Sterblichkeitsraten der Vergangenheit und nicht auf den Sterblichkeitsraten während des gesamten Lebens einer Person basiert, spiegelt sie nicht genau wider, wie lange eine Person leben wird. Sie liefert jedoch einen allgemeinen Hinweis auf die gesundheitliche Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt. Diese Studie misst die LE als das durchschnittliche Sterbealter ab dem 15. Lebensjahr.

Wie bei allen Durchschnittswerten wird auch bei der LE nicht berücksichtigt, inwieweit die Lebensjahre ungleich auf die Bevölkerung verteilt sind. Die Lebenslänge-Ungleichheit (LU) ist eine der grundlegendsten Formen der Ungleichheit. Die LU wird gemessen, indem man den Gini-Koeffizienten über die Verteilung des Sterbealters einer gegebenen Bevölkerung ab dem Alter von 15 Jahren berechnet. Der Gini misst, inwieweit die Verteilung der Lebensjahre innerhalb der Gesellschaft von einer perfekten Gleichverteilung abweicht. Ein Wert von 1 steht für perfekte Ungleichheit, während ein Wert von 0 für perfekte Gleichheit steht. Während andere Formen der Ungleichheit, z. B. bei Einkommen, Vermögen, Bildung oder Beruf, durch Umverteilungsmassnahmen kompensiert werden können, zeigt ein hoher LU-Wert an, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung vorzeitig gestorben ist: eine Situation, von der keine Erholung möglich ist.

Historische Lebenserwartung in der Schweiz

G 11 zeigt den Verlauf der LE in der Schweiz von 1876 bis 2016. Im Jahr 1876 betrug sie etwa 58.4 Jahre für Frauen und 56.3 Jahre für Männer. Danach stieg die Lebenserwartung in der Schweiz meist kontinuierlich bis auf 85.6 Jahre für Frauen und 81.9 Jahre für Männer an. Um 1918 beobachten wir einen starken Rückgang der LE sowohl für Schweizer Männer als auch für Frauen, trotz der Schweizer Neutralität im Ersten Weltkrieg. Grafik 11 zeigt auch, dass die Lebenserwartung von Männern und Frauen anfangs nahe beieinander lag, obwohl Schweizer Frauen durchwegs länger lebten als Schweizer Männer. Im Laufe der Zeit klafften sie langsam auseinander bis 1991. Zu diesem Zeitpunkt lebten die Schweizer Frauen 6.8 Jahre länger als die Männer. Nach 1991 näherten sie sich langsam an. Im Jahr 2016 lebten die Schweizer Frauen 3.8 Jahre länger als die Männer.

Lebenserwartung

Was können wir von der zukünftigen LE erwarten? Solche Entwicklungen sind äusserst wichtig, da ein längeres Leben in Verbindung mit niedrigen Fertilitätsraten die Kosten für die Gesundheitsversorgung erheblich beeinflusst und die Nachhaltigkeit der Rentensysteme bedroht. Obwohl es keinen eindeutig beobachtbaren Rückgang im Wachstum der LE der Männer gibt, ist das Wachstum der LE der Frauen im Laufe der Zeit zurückgegangen. Dies ist zu erwarten, da LE nur durch (i) Technologien wachsen kann, die die maximale menschliche Lebensspanne verlängern, oder (ii) durch die Erhöhung des Anteils der Menschen, die alt werden. Das bedeutet, dass das LE-Wachstum anfangs gross ist, da beide Faktoren wichtig sind, aber irgendwann wird LE nur noch aufgrund von Technologien wachsen, welche die maximale menschliche Lebensspanne erhöhen. Mit anderen Worten: Das LE-Wachstum wird letztendlich vollständig von den Fortschritten in der medizinischen Wissenschaft abhängen. Ob die LE weiter wachsen wird oder nicht, hängt also von diesen Fortschritten ab.

Historische Ungleichheit in der Lebenserwartung in der Schweiz

G 12 zeigt den Verlauf der LU in der Schweiz von 1876 bis 2016. In 140 Jahren sank die LU bei den Frauen um 71.2% und bei den Männern um 63.6%. Somit waren die verfügbaren Lebensjahre in der Schweiz im Jahr 2016 viel gleichmässiger über die Schweizer Bevölkerung verteilt als im Jahr 1876. G 12 ähnelt stark dem zeitlichen Verlauf der LE in G 11. Das diesem Artikel zugrunde liegende Buchkapitel zeigt und erklärt, dass die LE und die LU mechanisch korreliert sind. Dies liegt daran, dass die Zunahme der LE meist das Ergebnis von Gesundheitstechnologien ist, die es den Individuen ermöglichen, ein hohes Alter zu erreichen, im Gegensatz zu Gesundheitstechnologien, die das Alter selbst erhöhen. Der Artikel geht auf dieses Phänomen im nächsten Abschnitt näher ein.

G 12

Der Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Lebenslänge-Ungleichheit

G 13 zeigt die Anzahl der Todesfälle pro Altersgruppe pro 100 000 Sterbefälle in der Schweiz in den Jahren 2000, 1950 und 1890. Diese Daten verdeutlichen mehrere interessante Entwicklungen. Erstens war die Säuglingssterblichkeit im Jahr 1890 hoch und machte bis zu 15% aller Todesfälle aus. Infolge verbesserter Hygienepraktiken und der Verbreitung neuer und effektiverer Medikamente wurde die Säuglingssterblichkeit bis zum Jahr 2000 fast ausgerottet. Zweitens zeigt G 13, dass sich die Lebenserwartung im Laufe der Zeit verbessert hat, wobei im Jahr 2000 mehr Menschen ein höheres Alter erreichten als im Jahr 1890. Drittens zeigt G 13, dass die meisten Verbesserungen in der Lebenserwartung nicht das Ergebnis eines grossen Anstiegs der maximalen Lebenserwartung der Menschen sind, sondern das Ergebnis eines grösseren Anteils der Schweizer Bevölkerung, der ein höheres Alter erreicht. Dies wird deutlich, wenn man bemerkt, dass die meisten Variationen in den Verteilungen über die Zeit auf der linken Seite der Altersgipfel auftreten. Folglich sind die Lebenserwartung und die Ungleichheit der Lebenslänge in einem solchen Ausmass korreliert, dass es schwierig ist, aus den Mustern der Ungleichheit der Lebenslänge neue Informationen zu extrahieren, die wir nicht schon aus den Mustern der Lebenserwartung gelernt haben.

G 13

Historische Ungleichheit der relativen Lebenslänge in der Schweiz

Während die LU ein wertvoller Indikator für Gleichheit bleibt, kann er Unterschiede in der Ressourcenallokation zwischen Gesellschaften mit unterschiedlichem Niveau der Lebenserwartung nicht richtig erfassen. Dies ist auf die mechanische Beziehung zwischen LE und LU zurückzuführen. Wenn man also an Unterschieden in der LU interessiert ist, die auf andere Gründe als Veränderungen in der LE zurückzuführen sind, muss man die LU einer Gesellschaft im Vergleich zu Gesellschaften in ähnlichen LU-Gruppen betrachten. G 14 tut dies für Männer und Frauen getrennt. Sie zeigt die Beziehung zwischen der LU (vertikale Achse) und LE (horizontale Achse) für den gesamten Datensatz mit 15 144 Beobachtungen für 203 Länder (grau) und für die Schweiz (blau). Die rote Linie zeigt den Durchschnittswert der LU. G 14 zeigt, dass die Schweiz in Bezug auf die LU im Vergleich zu Ländern mit ähnlichem LE-Niveau gut abschneidet. Sowohl bei der LU der Männer als auch bei der LU der Frauen übertraf die Schweiz durchwegs ihre Mitbewerber. Bei der LU der Frauen gehörte die Schweiz oft zu den Besten zwischen einer LE von 60 und 70 Jahren. In den letzten Jahren hat sich die LU der Schweiz jedoch auf den Durchschnitt der Vergleichsländer zubewegt.

G 14

Literatur

Crombach, L., J. Smits, & C. Monden (2021): “Life expectancy and length of life inequality in the long run”, in How Was Life? Volume II: New Perspectives on Well-being and Global Inequality since 1820, OECD Publishing: Paris, externe Seitehttps://doi.org/10.1787/aa9ad684-en.

Smits, J. & C. Monden (2009): Ungleichheit in der Lebenserwartung rund um den Globus. Social Science & Medicine, 68(6), 1114-1123.

Kontakt

Lamar Crombach
  • LEE F 107
  • +41 44 632 25 96

Professur f. Wirtschaftsforschung
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

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