Schaden Deflation und rigide Löhne der Wirtschaft? Die Bedeutung von Lohnrigidität für die Geldpolitik

Anfang 2015 gab die Schweizer Nationalbank den CHF-Euro-Mindestwechselkurs auf und löste damit einen deflationären Schock aus. Wie haben Einkommen und Arbeitslosigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit und ohne rigide Löhne darauf reagiert?

Geld Lupe

Viele Ökonominnen und Ökonomen halten Deflation (d.h. einen anhaltenden Rückgang des allgemeinen Preisniveaus) aus mindestens drei Gründen für schädlich. Erstens würden Konsumentinnen und Konsumenten Kaufentscheidungen in Erwartung niedrigerer Preise in die Zukunft verschieben. Zweitens würden fallende Preise es erschweren, nominale Kredite zu erfüllen. Drittens würden Unternehmerinnen und Unternehmer aufgrund von fallenden Umsätzen Stellen kürzen, falls sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegen Nominallohnkürzungen wehren. Insbesondere aus Angst vor diesen negativen Konsequenzen für die Wirtschaft streben die meisten Zentralbanken ein deutlich positives Inflationsziel an.

Während der COVID-19-Pandemie ist die Inflation in den meisten Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gesunken (im Durchschnitt um 0.5 Prozentpunkte). Die Angst vor einer drohenden Deflation zeigt sich auch in den raschen Leitzinssenkungen und den neu aufgelegten Anleihenkaufprogrammen vieler Zentralbanken.

Deflationärer Schock nach Aufhebung der CHF-Wechselkursuntergrenze zum Euro

Es gibt jedoch nur wenig wissenschaftliche Untersuchungen, welche die negativen Auswirkungen von Deflation untersuchen. Zudem zeichnet sich in der bestehenden Forschung kein Konsens ab, ob Lohnrigiditäten – also mangelnde Flexibilität von Löhnen – relevant sind (z.B. Basu und House 2016). Daher untersuchen wir, ob Deflation aufgrund von nominellen Lohnrigiditäten zu tieferen Einkommen und höherer Arbeitslosigkeit führt (Funk und Kaufmann 2020). Wir verwenden einen neuen Datensatz zu Einkommen, Beschäftigung und Löhnen der Schweizer Erwerbsbevölkerung. Die Daten stammen aus dem Zentralregister der AHV und der Lohnstrukturerhebung, einer Firmenumfrage des Bundesamtes für Statistik. Die Umfragedaten enthalten Angaben zum vertraglich vereinbarten Lohn, so dass wir die Individuen in zwei Gruppen einteilen können. Die «Behandlungsgruppe» beinhaltet Individuen mit rigiden Löhnen, d.h. mit einer Nullrunde im Jahr 2014. Die «Kontrollgruppe» umfasst Individuen mit flexiblen Löhnen, d.h. mit einer kleinen Lohnkürzung im Jahr 2014. Anschliessend analysieren wir die unterschiedliche Einkommens- und Beschäftigungsentwicklung in den beiden Gruppen mit Hilfe der AHV-Daten.

Um den Einfluss eines deflationären Schocks auf die beiden Gruppen zu messen, nutzen wir ein natürliches Experiment: Im Januar 2015 gab die Schweizerische Nationalbank eine Wechselkursuntergrenze gegenüber dem Euro auf, was zu einer Aufwertung um 10% und einem Rückgang des Preisniveaus um 1% führte (siehe G 12). Um dessen Einfluss zu messen, vergleichen wir die unterschiedliche Entwicklung von Einkommen und Arbeitslosigkeit der beiden Gruppen vor und nach der Aufwertung.

Wechselkurs und Preisniveau

Deflation und Lohnrigiditäten führten zu geringeren Einkommen und höherer Arbeitslosigkeit

Die Auswirkungen von Lohnrigiditäten sind beträchtlich (siehe G 13). Im Vergleich zur Kontrollgruppe fällt das Einkommen (Arbeitseinkommen) von Individuen mit Lohnrigiditäten um 5% (12%). Der stärkere Rückgang des Arbeitseinkommens ist dadurch zu erklären, dass die Arbeitslosenversicherung einen Teil des Einkommens ersetzt, falls eine Person mit rigiden Löhnen den Job verliert. Tatsächlich ist für Individuen mit rigiden Löhnen die Wahrscheinlichkeit, arbeitslos zu werden, um 1.2 Prozentpunkte höher.

Starre und flexible Löhne

Zur Identifikation konzentrieren wir uns auf Personen, die nahe am Ursprung der Lohnänderungsverteilung liegen. Dies bedeutet jedoch, dass die Ergebnisse nicht repräsentativ für die gesamte Wirtschaft sind. Wir schätzen daher repräsentative aggregierte Effekte, indem wir mit unserem Schätzmodell das Einkommen und die Beschäftigung für Individuen in der Behandlungsgruppe ohne Lohnrigiditäten vorhersagen. Danach verwenden wir Stichprobengewichte, um diese individuellen Vorhersagen zusammen mit den tatsächlichen Beobachtungen für Individuen ohne Lohnrigiditäten zu aggregieren. Die Effekte sind auch für die Gesamtwirtschaft relevant. Im Vergleich zu einer kontrafaktischen Situation ohne Lohnrigiditäten liegen das Einkommen und Arbeitseinkommen um 0.4% bzw. 1% niedriger. Darüber hinaus ist die Zahl der Arbeitslosen um mehr als 2% höher.

Was bedeuten Lohnrigiditäten für die Geldpolitik?

Unsere Ergebnisse haben Implikationen für die Geldpolitik und die optimale Höhe des Inflationsziels. Einerseits ist eine Null- oder leicht negative Inflation wünschenswert, weil sie die Kosten der Geldhaltung minimiert (Friedman 1969). Darüber hinaus sind Abweichungen der Inflation von null kostspielig, da es aufgrund von relativen Preisverzerrungen zu einer Fehlallokation von Ressourcen kommt (Yun 2005). Auf der anderen Seite argumentieren einige Forscherinnen und Forscher, dass die Kosten einer (moderat) positiven Inflationsrate relativ gering sind (Nakamura et al. 2018). Darüber hinaus lockert eine positive Trend­inflation die effektive Nullzinsgrenze (siehe Andrade et al. 2019) und reduziert Verzerrungen, die durch Nominallohnrigiditäten entstehen (Tobin 1972, Kim und Ruge-Murcia 2009). Diese Faktoren müssen gegeneinander abgewogen werden, um das optimale Niveau des Inflationsziels zu bestimmen.

Spätestens seit der globalen Finanzkrise erkennen die meisten Zentralbankerinnen und Zentralbanker an, dass die effektive Zinsuntergrenze die Geldpolitik deutlich einschränkt. Die Bedeutung von Lohnrigiditäten für das optimale Inflationsniveau ist umstrittener. Issing et al. (2003) argumentieren beispielsweise, dass «... die Bedeutung von nominalen Rigiditäten in der Praxis höchst ungewiss ist und die empirische Evidenz nicht schlüssig ist, insbesondere für den Euroraum» und «... es scheint schwierig, die Möglichkeit auszuschliessen, dass solche Rigiditäten im Kontext eines dauerhaften und voll glaubwürdigen Übergangs zu einem niedrigen Inflationsumfeld abnehmen und sogar verschwinden würden» (eigene Übersetzung aus dem Englischen).

Die Federal Reserve und die EZB haben ihre geldpolitischen Strategien angesichts der Herausforderungen, die während und nach der Finanzkrise entstanden sind, gründlich überprüft. Unsere Ergebnisse liefern neue Erkenntnisse, die für solche strategischen Überprüfungen wertvoll sind. Nominallohnrigiditäten verschwinden auch während einer längeren Periode milder Deflation nicht. Darüber hinaus haben Nominallohnrigiditäten negative Auswirkungen auf Einkommen und Beschäftigung nach einem exogenen deflationären Schock. Deswegen sollten Zentralbanken und Wissenschaftler Nominallohnrigidität bei der Wahl der geldpolitischen Strategie berücksichtigen, insbesondere bei der Art und Höhe des nominellen Ziels.

Literatur

Andrade, P., J. Galí, H. L., Bihan, and J. Matheron (2019): The optimal inflation target and the natural rate of interest. Brookings Papers on Economic Activity, 3, 173-230, externe Seiteonline.

Basu, S. and C. L. House (2016): Allocative and remitted wages: New facts and challenges for Keynesian models. In Taylor, J. B. and H. Uhlig, editors: Handbook of Macroeconomics. vol. 2, 297-354, Elsevier, externe Seiteonline.

Funk, A. K. and D. Kaufmann (2020): Do sticky wages matter? New evidence from matched firm-survey and register data. IRENE Working Papers 20-06, IRENE Institute of Economic Research, University of Neuchâtel.

Friedman, M. (1969): The Optimum Quantity of Money and Other Essays. Chicago: Aldine.

Issing, O., I. Angeloni, V. Gaspar, H.-J. Klöckers, K. Masuch, S. Nicoletti-Altimari, M. Rostagno, and F. Smets (2003): Background studies for the ECB’s evaluation of its monetary policy strategy. European Central Bank, externe Seiteonline.

Kaufmann, D. (2020): Is deflation costly after all? The perils of erroneous historical classifications. Journal of Applied Econometrics, 35, 614-628, externe Seiteonline.

Kim, J. and F. J. Ruge-Murcia (2009): How much inflation is necessary to grease the wheels? Journal of Monetary Economics, 56(3), 365-377, externe Seiteonline.

Nakamura, E., J. Steinsson, P. Sun, and D. Villar (2018): The elusive costs of inflation: Price dispersion during the U.S. Great Inflation. The Quarterly Journal of Economics, 133(4), 1933-1980, externe Seiteonline.

Tobin, J. (1972): Inflation and unemployment. American Economic Review, 62(1), 1-18.

Yun, T. (2005): Optimal monetary policy with relative price distortions. The American Economic Review, 95(1), 89-109, externe Seiteonline.

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