«Die Schweiz lebt von offenen Grenzen»

KOF-Direktor Jan-Egbert Sturm erklärt im Interview, warum aus ökonomischer Perspektive das Zustandekommen eines Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU wünschenswert gewesen wäre und welche wirtschaftlichen Risiken nach dem Scheitern des Abkommens jetzt drohen.

Rahmenabkommen

Herr Sturm, wie beurteilen Sie aus rein ökonomischer Sicht das Scheitern des Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der Europäischen Union?

Für die Schweiz ist die Europäische Union der mit Abstand wichtigste Handelspartner. Zirka die Hälfte der Schweizer Exporte geht in die EU. Und über 60 Prozent unserer Importe kommen aus der EU (siehe Grafik 1). Aus rein ökonomischer Sicht sind offene Grenzen und gute Beziehungen zu den Handelspartnern wichtig, insbesondere für ein so kleines und exportabhängiges Land wie die Schweiz. Die Schweiz lebt von offenen Grenzen. Aus rein volkswirtschaftlicher Perspektive wäre es also wünschenswert gewesen, wenn die Schweiz und die EU die derzeit bestehenden bilateralen Verträge durch ein Rahmenabkommen ersetzt hätten. Aber die Welt wird nicht nur aus der Wirtschaftsperspektive regiert. Wir haben auch politische und soziale Faktoren jenseits der reinen ökonomischen Rendite, die in der Debatte eine wichtige Rolle spielen.

Rahmenabkommen

Können Sie die Argumente der Gegner des Rahmenabkommens nachvollziehen?

Ja, natürlich. Die Schweiz steht wirtschaftlich sehr gut dar. Das erschafft den Eindruck, dass man besser fährt, wenn man seinen eigenen Weg geht und sich nicht zu stark in die EU integriert. Zudem haben viele Schweizer die Sorge, dass die Schweiz als direkte Demokratie Souveränität verliert, wenn man sich zu stark in die EU integriert. Da ist sicherlich auch eine Prise Nationalstolz im Spiel. Zudem befürchten vor allem Schweizer Grenzregionen ein Lohndumping und soziale Verwerfungen, wenn sich die Schweiz zu sehr dem Ausland öffnet. All diese Argumente müssen ernst genommen werden und sind nicht ganz von der Hand zu weisen.

Stimmt denn der Vorwurf vieler Nachbarländer, dass die Schweiz sich abschottet?

Die Schweiz ist nicht Teil der EU und hat insofern innerhalb Europas einen Sonderstatus. Deshalb sind die Schweizer Handelsbarrieren stärker als innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten. Die Abschottung ist politisch durchaus so gewollt. Aber wir müssen darüber diskutieren, wie weit diese Abschottung gehen sollte. Aus rein ökonomischer Sicht wäre weniger Abschottung wünschenswert. Die Schweizer Wirtschaft und damit ihre Gesellschaft profitiert vom unbürokratischen Marktzugang zum europäischen Binnenmarkt.

Was ist die Alternative nach dem Scheitern des Rahmenvertrags?

Das ist die grosse Frage. Denn auch die Ausarbeitung einer Alternative wird wieder viel Zeit kosten. Und die Welt dreht sich weiter, sowohl was Märkte als auch Technologien angeht. Stillstand ist insofern Rückschritt. Klar kann man sich an Grossbritannien und Norwegen orientieren. Aber selbst, wenn es eine Blaupause gibt, wird man lange im Status quo hängen bleiben, bis man zu einer neuen Verhandlungslösung kommt.

Gerät die Schweiz nun nach dem Scheitern des Rahmenvertrags wirtschaftlich ins Hintertreffen?

Ja, ohne eine Art von Rahmenvertrag wird es stetig schwieriger für die Schweizer Wirtschaft werden wettbewerbsfähig zu bleiben. Viele Branchen, beispielsweise die Pharmabranche, der Energiesektor oder die Wissenschaft werden ohne das Rahmenabkommen immer stärker unter Druck geraten.

Wäre es denkbar, sich nur auf Teile des Rahmenabkommens zu einigen und andere umstrittene Teile auszuklammern, frei nach dem Motto «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach» oder geht es tatsächlich um «Alles oder Nichts»?

Aus europäischer Perspektive ist es ein Alles oder Nichts. Ich glaube nicht, dass sich die Europäische Union auf Teilschritte einlassen würde. Es hätte maximal noch die Chance bestanden, durch Nachverhandlungen das «Alles» aus Schweizer Sicht vorteilhafter zu definieren.

Wie beurteilen Sie nun die Verhandlungsposition der Schweiz gegenüber der EU?

Ich bin kein Politiker, aber ich kann eine politökonomische Einschätzung einbringen. Ich glaube, dass die Schweiz ihren Spielraum innerhalb eines Rahmenabkommens unterschätzt hat. Selbst innerhalb der EU divergiert der Umgang der Länder mit den europäischen Regeln. Das wird einem schnell klar, wenn man auf Länder wie Polen oder Ungarn blickt. Da ist die Schweiz sicherlich näher dran am Europäischen Gedanken und wäre deshalb wohl in der Lage gewesen, ihren Spielraum innerhalb eines Rahmenabkommens auszunutzen. Diese Chance hat die Schweiz vorerst vertan.

Das Rahmenabkommen

Das Rahmenabkommen EU-Schweiz, auch als Institutionelles Abkommen bezeichnet, ist ein Vertragswerk, das die Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit der Europäischen Union und der Schweiz zukünftig hätte regeln sollen. Die Schweiz hat allerdings im Mai 2021 die Verhandlungen abgebrochen. Die Beziehungen der Schweiz mit der Europäischen Union sind derzeit über ein Netz von bilateralen Verträgen geregelt. Die bilateralen Verträge zwischen der EU und der Schweiz bleiben nach dem Scheitern des Rahmenabkommens trotzdem bestehen. Aber die Europäische Union hat gewarnt, mit welchen Folgen die Schweiz ohne den Abschluss des Rahmenabkommens rechnen müsse: Es werde keine weiteren Abkommen geben, und ältere Abkommen würden möglicherweise nicht aktualisiert.

Kontakt

Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm
Ordentlicher Professor am Departement Management, Technologie und Ökonomie
Direktor KOF Konjunkturforschungsstelle
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  • +41 44 632 50 01
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Professur f. Wirtschaftsforschung
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

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