Innerschweizer Steuerwettbewerb und Ungleichheit

Die Rolle der Schweiz im internationalen Steuerwettbewerb ist in der letzten Zeit viel diskutiert worden. Dieser Beitrag wirft einen Blick auf eine Auswirkung des interkantonalen Steuerwettbewerbs, und zwar auf die «sozialräumliche Segregation». Darunter versteht man die räumliche Konzentration von ähnlichen Haushalten nach Kriterien wie etwa Einkommen, Vermögen, Alter oder Ethnizität.

Steuererklärung

Ermöglicht der sogenannte «Steuerwettbewerb» auf der Ebene der Kantone und Gemeinden einen «Service public» à la carte? Die Steuerautonomie der Kantone und lokal divergierende Steuersätze sind in der modernen Schweiz stets die Regel gewesen. Solange aber die Mobilität der Steuerzahlenden gering war, bedeuteten unterschiedliche Steuersätze noch nicht Konkurrenz um «gute» Steuerzahler. Ein regelrechter Steuerwettbewerb mit diesem Ziel setzte erst in den 1990er Jahren ein. Er wird verbreitet als Element des Schweizer Erfolgsmodells angesehen.

Es gibt demnach einen «Markt», auf dem Gebietskörperschaften Art und Umfang des «Service public» und die dafür zu entrichtenden Preise festlegen, also die Steuersätze beziehungsweise -füsse. Die Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz entscheiden dann aufgrund ihrer Vorlieben, welchen Preis sie für welche Art von «Service public» zu zahlen gewillt sind, und wählen ihren Wohnsitz entsprechend. Die «Konkurrenz» innerhalb der Kantone und Gemeinden sorgt dann dafür, dass ein den Wünschen der Einwohner entsprechender «Service public» zu einem «wettbewerbsfähigen» Preis zur Verfügung gestellt wird.

Die Marktanalogie ist allerdings schief, denn die Bewohner der Schweiz sind keine «repräsentativen Agenten», die sich nur durch ihre Präferenzen hinsichtlich des «Service public» unterscheiden, sondern heterogen bezüglich Einkommen und Vermögen. Ausserdem werden durch die Kantone und Gemeinden vor allem öffentliche Güter bereitgestellt, für die es weder Märkte noch Preise gibt. Schliesslich sind in der Schweiz ein grosser Teil der Ausgaben von Kantonen und Gemeinden Transferleistungen wie Prämienverbilligungen und Sozialhilfe an weniger Bemittelte, die nicht direkt den Zahlenden zugutekommen. Das Äquivalenzprinzip von Zahlung und Leistung gilt demnach nicht. Der daraus resultierende Anreiz, möglichst wenig zu den Leistungen der öffentlichen Hand beizutragen, steigt in einem progressiven Steuersystem wie dem der Schweiz überproportional mit dem Einkommen beziehungsweise Vermögen.

Konkurrenz um «gute» Steuerzahler

Im Bereich der Einkommenssteuer der natürlichen Personen hat dies in der Schweiz zu einer Konkurrenz von Kantonen und Gemeinden um «gute» Steuerzahler geführt. Da für eine Wohnsitzentscheidung steuerliche Gesichtspunkte vor allem für deutlich Bessergestellte relevant sind, geht es hierbei vor allem um diese.

Sobald die dadurch angestossene soziale Entmischung einsetzt, tendiert sie dazu, sich selbst zu verstärken. Ansprüche auf einkommensabhängige soziale Transfers bestehen bei Bessergestellten nicht. Die Steuereinnahmen steigen also stärker als die Ausgaben, was Senkungen der Steuertarife und -füsse ermöglicht. Dies betrifft die hohen Einkommen, denn am unteren Ende gibt es keinen «Wettbewerb». Man betrachte dazu die Einkommenssteuer von Haushalten mit Bruttoeinkommen von 30 000 beziehungsweise 1 Million Franken in den 26 Schweizer Kantonshauptorten.

Die Grafik G 1 zeigt die erstaunliche Entwicklung der Korrelationen der beiden Grössen von 1983 bis in die Gegenwart. Vor dem Einsetzen des Steuerwettbewerbs waren die Korrelationen durchweg signifikant positiv, nahmen aber Ende der 1980er Jahre schnell ab. Für die «idealtypische» Einzelverdienerfamilie mit zwei Kindern wurden und bleiben sie signifikant negativ, für Verheiratete und Einzelpersonen ohne Kinder sanken sie gegen null.

Korrelation der Steuerbelastung

Dies bedeutet, dass vor 35 Jahren in den Kantonen, welche die Reichen gering besteuerten, auch die Ärmeren vergleichsweise geringe Steuern zahlten (und umgekehrt), während heutzutage dort, wo die Steuersätze für die höchsten Einkommen vergleichsweise attraktiv sind, dies am unteren Ende der Einkommensverteilung nicht der Fall ist. Für Familien mit Kindern gilt sogar das Gegenteil.

Verstärkte Entmischung der Bevölkerung

Hinzu kommt, dass dort, wo die Bessergestellten wohnen, die Wohnkosten höher sind. Es tritt ein, was der Anreizsetzung entspricht: Die Bessergestellten entscheiden sich für Orte mit niedrigerer Steuerrechnung als am Herkunftsort. Anders ist es bei den Ärmeren. Die Wohnkosten machen bei diesen einen erheblichen Anteil des Einkommens aus und sind damit massgeblich für das, was nach Abzug von Krankenkassenprämien und Steuern übrig bleibt. Somit sind steigende Wohnkosten für diese Haushalte ein Anreiz, an einen günstigeren Wohnort umzuziehen, zumal sich dadurch an der Steuerrechnung bei diesen Haushalten kaum etwas ändert. Auch erfolgt ein solcher Umzug nicht immer freiwillig; von Sozialleistungen Abhängige werden durch Höchstsätze für die Mietzinsübernahme oder mehr oder weniger sanften Druck der Behörden dazu genötigt, wegzuziehen. Dies nennt der Autor dieses Beitrags die «dunkle» Seite des innerkantonalen Steuerwettbewerbs.

Das Ergebnis ist eine Entmischung der Bevölkerung mit einer Konzentration von Bessergestellten an Orten mit niedrigen Steuersätzen für die höchsten Einkommen und reichlich sprudelnden Steuererträgen bei gleichzeitig geringem Aufwand für soziale Transferleistungen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite kommt es zu einer Konzentration von Schlechtergestellten an Orten mit hohen Steuersätzen bei den höchsten Progressionsstufen und spärlich sprudelnden Steuererträgen bei gleichzeitig hohem Aufwand für soziale Transferleistungen.

Finanzausgleich begrenzt die Auswirkungen des Steuerwettbewerbs

Die vom Autor präsentierten Daten entsprechen diesem Bild. Niedrigere Steuern bei den höchsten Einkommen gehen mit hohen durchschnittlichen kantonalen steuerbaren Einkommen einher sowie mit hohen Wohnkosten (Ausnahme: Genf) und mit vergleichsweise niedrigerem Vorkommen von Armut. Wo Bessergestellte hohe Steuersätze vorfinden, gibt es also eine Konzentration von Ärmeren. Da der Steuerwettbewerb und seine Folgen nicht nur auf der Kantons-, sondern auch auf der interkantonalen Gemeindeebene stattfinden, dürften die hier gezeigten Befunde die Zusammenhänge eher unter- als überschätzen.

Die Auswirkungen des Steuerwettbewerbs sind differenziert zu beurteilen. Was individuell sinnvoll ist (Wohnsitzwahl nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten), erweist sich hier sozial als dysfunktional. In der Folge versuchen der innerschweizerische Finanzausgleich sowie in einigen Kantonen ein Finanzausgleich auf Gemeindeebene, Probleme zu lindern, die durch den Steuerwettbewerb verstärkt oder überhaupt erst geschaffen wurden. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die behaupteten Effizienzgewinne und Produktivitätszuwächse die Nachteile durch die nachweisliche sozialräumliche Entmischung aufwiegen und wem der Steuerwettbewerb schliesslich nützt und wem nicht. Wenn man die ordnungspolitische Prämisse eines möglichst «schlanken» Staates teilt, wird das Urteil eher zugunsten des Steuerwettbewerbs ausfallen  wenn eine egalitärere Gesellschaft bevorzugt wird, eher dagegen.

Eine ausführliche Version dieses Beitrags findet sich in den «KOF Analysen» 4/2019.

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Prof. Dr. Michael Graff
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
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