Die Arbeitslosigkeit sinkt ab einem BIP-Wachstum von 2%

In der Schweiz wird ein BIP-Wachstum von rund 2% benötigt, damit die Arbeitslosigkeit sinkt. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Bruttoinlandprodukt ist in der Schweiz aber weniger stark als im Ausland. Das liegt auch daran, dass Schweizer Firmen ihren Bedarf an Arbeitskräften oft im Ausland decken.

Arbeiter

Wenn sich das Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) erhöht, sinkt die Arbeitslosigkeit. Dieser Zusammenhang wird auch als «Okunsches Gesetz» bezeichnet, da es der amerikanische Ökonomen Arthur M. Okun war, der 1962 erstmals ausführlich auf den negativen Zusammenhang zwischen dem realen BIP-Wachstum und der Veränderung der Arbeitslosenquote eingegangen ist. Der zugrundeliegende Mechanismus ist einfach: Wenn die Wirtschaft boomt und die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen gross ist, dann steigt der Bedarf der Firmen nach Arbeitskräften. Da sie auch Arbeitslose anstellen, sinkt die Arbeitslosenquote. Das Umgekehrte geschieht in einer Rezession.

Grafik G 1 zeigt das Okunsche Gesetz anhand von Jahresdaten im Zeitraum 1991–2017 für die Schweiz. Auf der x-Achse ist die BIP-Wachstumsrate im Vergleich zum Vorjahr abgebildet. Auf der y-Achse ist die Vorjahresveränderung der Arbeitslosenquote gemäss der Definition der International Labour Organisation (ILO) zu sehen. Wir unterscheiden die Perioden 1991–2002 und 2002–2017. Der negative Zusammenhang zwischen BIP-Wachstum und Veränderung der Arbeitslosenquote ist in beiden Perioden klar ersichtlich. Nimmt man die eingezeichneten Trendlinien zu Hilfe, so suggeriert die Grafik, dass ein BIP-Wachstum von 4% die Arbeitslosenquote im gleichen Jahr um rund 0.5 Prozentpunkte senkt. Schrumpft das BIP hingegen um -2%, wie in der Rezession im Jahr 2009, nimmt die Arbeitslosenquote um fast einen Prozentpunkt zu.

Grafik Das Okunsche Gesetz in der Schweiz

Die «Beschäftigungsschwelle» liegt bei 2% BIP-Wachstum

Zentral ist auch der Wert, bei dem die eingezeichnete Trendlinie die x-Achse schneidet. Dieser Punkt gibt Auskunft darüber, welches BIP-Wachstum im Normalfall benötigt wird, damit die Arbeitslosenquote in der Schweiz sinkt. Diesen Punkt bezeichnet man auch als «Beschäftigungsschwelle». Gemäss Grafik liegt die Beschäftigungsschwelle bei einem BIP-Wachstum von rund 2%. Das zeigt aber auch, dass die Arbeitslosigkeit in der Schweiz ansteigt, selbst wenn die Wirtschaft moderat wächst, zum Beispiel um 1%. Das hat zwei Erklärungen. Erstens nimmt Jahr für Jahr die Zahl der Arbeitskräfte zu. Um diese zusätzlichen Arbeitskräfte zu absorbieren und damit einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verhindern, muss auch die Beschäftigung zunehmen und damit das BIP. Zweitens steigt die Arbeitsproduktivität kontinuierlich. Wenn die Wertschöpfung pro Arbeitskraft in einem Jahr z. B. um 1% zunimmt, dann muss die Produktion um 1% zunehmen, damit die Beschäftigung nicht zurückgeht.

Vergleicht man die beiden Perioden, die in Grafik G 1 dargestellt sind, so erhält man auch den Eindruck, dass die Beschäftigungsschwelle in den letzten 15 Jahren etwas höher lag als in der Periode davor. Und auch der Zusammenhang zwischen BIP-Wachstum und Veränderung der Arbeitslosenquote scheint abgenommen zu haben: Die Steigung der Trendlinie ist etwas zurückgegangen. Ein gegebener BIP-Anstieg oder -Rückgang hat also einen kleineren Einfluss auf die Arbeitslosenquote als auch schon. Zwar sollte man den Vergleich zwischen den beiden Perioden nicht überstrapazieren, da er auf sehr wenigen Datenpunkten beruht, dennoch ist die Erkenntnis aus dem Vergleich relevant. Der Grund: Die Schweiz wies im internationalen Vergleich bereits in den 1990er-Jahren nur einen schwachen Zusammenhang zwischen BIP-Wachstum und Arbeitslosigkeit auf. In einer Studie des Internationalen Währungsfonds (Ball et al., 2013) ist die Schweiz unter 20 entwickelten Volkswirtschaften beispielsweise jene mit dem drittkleinsten Zusammenhang zwischen BIP-Wachstum und Veränderung der Arbeitslosenquote. Dieser früher schon geringe Zusammenhang ist also gemäss Grafik 1, wenn überhaupt, noch kleiner geworden.

Woran liegt es, dass BIP und Arbeitslosigkeit in der Schweiz weniger stark zusammenhängen als in anderen Ländern? Die Autoren des Währungsfonds geben eine plausible Antwort. Es liegt hauptsächlich daran, dass die Schweizer Firmen, wenn sie ihre Beschäftigung aufbauen, nicht nur auf Arbeitslose, sondern vor allem auch auf ausländische Arbeitskräfte setzen. Umgekehrt sind es traditionellerweise die ausländischen Arbeitskräfte, die in einer Rezession besonders Gefahr laufen, ihre Stelle zu verlieren. Wandern diese aus, taucht der Rückgang in der Beschäftigung nicht in der Schweizer Arbeitslosenstatistik auf. Das BIP und die Arbeitslosigkeit hängen in der Schweiz also nicht so nah zusammen, weil die Arbeitslosen nur eines von zwei Reservoirs an potenziellen Arbeitskräften sind, wenn es der Wirtschaft gut läuft. Das BIP und die Beschäftigung in der Schweiz hängen hingegen sehr wohl – und im internationalen Vergleich auch keineswegs schwach – zusammen.

Grafik BIP-Wachstum und Zuwanderung (1990-2017)

Grafik G 2 zeigt den bedeutenden Zusammenhang zwischen der Wachstumsrate des realen BIP und der Wachstumsrate der Zuwanderung in der Schweiz; um genau zu sein: die Vorjahreswachstumsrate der Bruttozuwanderung in die ständige ausländische Wohnbevölkerung der Schweiz. Grafik 2 zeigt, dass ein hohes BIP-Wachstum mit einem Wachstum der Zuwanderung in die Schweiz einhergeht. Umgekehrt nimmt die Zuwanderung in konjunkturell schwierigen Zeiten ab. Die Grafik suggeriert auch, dass der positive Zusammenhang zwischen Zuwanderung und BIP-Wachstum seit 2002 grösser ist als in der Periode davor – also in der Periode vor der Einführung der Personenfreizügigkeit. Das zeigt, dass die Zuwanderung in die Schweiz trotz Personenfreizügigkeit konjunktursensitiv ist, ja sogar konjunktursensitiver als in den Jahren davor.

Literatur

Ball, L., D. Leigh und P. Loungani (2013): Okun's Law: Fit at 50? IMF Working Paper 13/10.

Kontakt

Dr. Michael Siegenthaler
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
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KOF Konjunkturforschungsstelle
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