«Der Sozialstaat ist kein Auslaufmodell»

Michael Graff

Michael Graff, Co-Leiter des Forschungsbereichs Konjunktur, erläutert seinen Standpunkt zur erfolgreichen Initiative für eine 13. AHV-Rente und zur Zukunft des Sozialstaats im Zeitalter des demographischen Wandels. Ausserdem verrät er, welche Pläne er für seinen Ruhestand hat.

Die Schweiz ist in der ganzen Welt für ihre seriöse Finanzpolitik bekannt, hat aber zuletzt überraschend eine Rentenerhöhung von gut 8% beschlossen, ohne dafür eine Gegenfinanzierung zu haben. Ist das ein politischer Paradigmenwechsel hin zu einem ausufernden Sozialstaat wie in Deutschland?

Dreimal Widerspruch! Darüber, was eine seriöse Finanzpolitik ist, kann man lange streiten. Die Schuldenbremse verpflichtet die Schweiz zu einem über den Konjunkturzyklus ausgeglichenen Budget. Die Schuldenquote, also die Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt, konvergiert in dieser Konstellation bei einer wachsenden Wirtschaft gegen null. Dies ist getrieben von der Ansicht, dass Staatsschulden per se schlecht seien. Dieses Urteil kann man mit Recht anzweifeln – es kommt nicht zuletzt darauf an, was man damit finanziert. Zweitens ist die Schweiz von einem ausufernden Sozialstaat weit entfernt. Sie hat einen im europäischen Vergleich eher schlanken Sozialstaat. Drittens war das Ergebnis nicht überraschend, sondern schon Wochen vor der Abstimmung absehbar. Ich sehe keinen Paradigmenwechsel. Die Schweizer und Schweizerinnen haben für eine aus meiner Sicht massvolle Ausweitung der AHV gestimmt.

Aber wäre eine gezielte Sozialpolitik gegen Altersarmut nicht besser, als mit der Giesskanne Geld an alle Rentner und Rentnerinnen zu verteilen?

Die Metapher der Giesskanne gefällt mir nicht. Viele öffentliche Güter wie Bildung, innere Sicherheit oder Landesverteidigung werden für die gesamte Bevölkerung zur Verfügung gestellt, wenn man so will mit der Giesskanne. Das ist kein Spezifikum der AHV. Das Problem einer gezielten Sozialpolitik wie zum Beispiel in der Schweiz bei den Ergänzungsleistungen und der Sozialhilfe ist, dass die Anspruchsberechtigten dafür gegenüber dem Staat aktiv die Bedürftigkeit anmelden und akribisch nachweisen müssen. Aber viele Betroffene tun dies aus Scham oder Unwissenheit nicht.

«Die Schweiz ist von einem ausufernden Sozialstaat weit entfernt. Sie hat einen im europäischen Vergleich eher schlanken Sozialstaat.»
Michael Graff

Trotzdem bleibt eine Finanzierungslücke …

Die Finanzierung muss nun im politischen Prozess geklärt werden. Möglich wäre eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, der Rentenbeiträge oder der Beiträge aus Bundessteuern. Ich gehe von einer Kombination der drei Möglichkeiten aus.

Das demographische Problem der AHV bleibt derweil ungelöst: Wir haben zu wenig Einzahler und zu viele Empfänger – Tendenz steigend.

Dieses Narrativ stimmt nur teilweise. Bei der Einführung der AHV nach dem Zweiten Weltkrieg war die Frauenerwerbstätigkeit extrem gering. Diese ist heute dank besserer staatlicher Betreuungsangebote viel höher und zudem ist die Kinderzahl pro Frau deutlich gesunken Die Schweiz erlebt da gerade sowohl eine demographische als auch eine kulturelle Transformation. Heute ist es auch in der Schweiz gesellschaftlich weitgehend anerkannt, wenn eine Mutter arbeiten geht und ihr Kind in eine Betreuungseinrichtung bringt. Das lässt die Zahl der Erwerbstätigen steigen, auch wenn die Zahl der Personen im erwerbstätigen Alter sinkt, und mit weniger Kindern sinkt das Verhältnis von abhängigen Personen (Kinder und Alte) zu Beschäftigten. Zudem erhöht die Zuwanderung, die ja an Erwerbstätigkeit gekoppelt ist, die Basis der Einzahler. Schliesslich gibt es kontinuierliche Fortschritte in der Arbeitsproduktivität. Seit der Industriellen Revolution wächst diese jährlich um 1 bis 2%. Dies erhöht die Finanzierbarkeit des Rentensystems.

Vergrösserte Ansicht: Michael Graff
"Ich bleibe hoffentlich noch lange ein denkender Mensch und werde weiter wissenschaftlich-publizistisch arbeiten", sagt Michael Graff, der im Mai nach 23 Dienstjahren an der KOF in Rente geht. Bild: Domjahn

Jenseits des Rentensystems: Ist der klassische Sozialstaat angesichts des demographischen Wandels überhaupt ein Zukunftsmodell oder müssen wir nicht viel mehr über individuelle Vorsorge nachdenken?

Der Sozialstaat ist kein Auslaufmodell. In der Schweizer Bundesverfassung steht wortwörtlich, «dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Der Aufbau und die Aufrechterhaltung eines Sozialstaates ist also ein Verfassungsauftrag. Nach meiner moralischen Überzeugung, die mit der Gerechtigkeitstheorie des amerikanischen Philosophen John Rawls1 übereinstimmt, brauchen wir mehr und nicht weniger Umverteilung. Zudem gibt es funktionelle Argumente für einen Sozialstaat. Wenn die Ungleichheit extrem hoch ist, versuchen sich die Benachteiligten mit Gewalt zu beschaffen, was ihnen aus ihrer Sicht zusteht. Die Mittel- und Oberschicht lebt dadurch in ständiger Angst um ihr Hab und Gut und ihr Leben und muss dann wie beispielsweise in Brasilien in eingezäunten Vierteln leben. Das ist kein angenehmes Leben.

Viele Sozialstaatsbefürworter sind gleichzeitig für offene Grenzen. Kann ein Sozialstaat ohne Grenzen funktionieren oder bricht er dann nicht automatisch durch unkontrollierte Zuwanderung zusammen?

Das ist tatsächlich ein Dilemma. Wenn jeder Einwandernde Anspruch auf Sozialhilfe und Rente hätte, ohne je in das Sozialsystem eingezahlt zu haben, würde der Sozialstaat zusammenbrechen. Deshalb finde ich auch das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens schwierig – auch wenn die Idee attraktiv ist.

Spielen wir mal das andere Extrem durch. Was würde passieren, wenn die Einwanderung massiv begrenzt würde?

Wenn man heute die Grenzen schliessen würde, würde die Erwerbsbevölkerung schnell schrumpfen. Der Fachkräftemangel wäre noch grösser als ohnehin schon. Das wiederum würde die Finanzierung des Sozialwesens und von kollektiven Gütern wie der Landesverteidigung oder des Gesundheitssystems erschweren. Auch die Qualität der Forschung und Lehre an den Universitäten würde ohne ausländische Dozenten und Studenten schnell abnehmen, was langfristig die Innovationskraft der Schweiz schwächen würde.
 

«Ich bin froh, dass die Wirtschaftswissenschaften im Laufe der Zeit weitestgehend vom reinen Theoretisieren weggekommen sind.»
Michael Graff

In ökologischen Kreisen wird unter dem Stichwort «Postwachstumsökonomie» oder «Degrowth» eine Abkehr vom auf Wachstum ausgerichteten Wirtschaftsmodell gefordert. Kann ein Sozialstaat ohne Wachstum als Umverteilungsmasse funktionieren?

Es gibt keinen zwingenden Grund, dass ein Sozialstaat nur in einer wachsenden Wirtschaft funktioniert. Japan ist über Jahrzehnte kaum gewachsen, hat aber seinen Sozialstaat aufrechterhalten. Allerdings ist der Widerstand gegen Umverteilung grösser, wenn die Umverteilung nicht aus den Zuwächsen, sondern aus dem Bestand geleistet wird. Dem müsste sich die Politik stellen.

Du gehst diesen Mai nach 23 Dienstjahren an der KOF und 35 Jahren in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung in Deutschland, Neuseeland, Australien und der Schweiz in Rente. Wie blickst du heutzutage auf die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften?

Ich bin froh, dass die Wirtschaftswissenschaften im Laufe der Zeit weitestgehend vom reinen Theoretisieren weggekommen sind. Aus Ableitungen von Axiomen kann man aus meiner Sicht nicht viel über die reale Welt lernen. In dem Moment, wo man die Annahmen aufgeschrieben hat, sind die Folgerungen schon klar. Man muss sie nur noch richtig herleiten. Der Philosoph und Soziologe Hans Albert hat diese Strömung, die in den Wirtschaftswissenschaften lange dominant war, treffend als «Modellplatonismus»2 kritisiert. Heute arbeiten die meisten Forschenden mit realen Daten an konkreten Problemen. Diesen empirischen Ansatz der Wirtschaftsforschung halte ich für deutlich fruchtbarer. Allerdings würde ich mir an manchen Stellen mehr kritisches Bewusstsein wünschen. Wenn man sich auf aktuell debattierte und zu lösende Probleme konzentriert und dabei auf empirische Daten stützt, ist der Fokus auf den Status quo oder die Vergangenheit gerichtet. Die Frage «Könnte die Welt auch anders aussehen?» kommt dabei aus meiner Sicht zu kurz. Dabei hat diese Frage in der politischen Ökonomie eine lange Tradition, nicht nur bei linken Theoretikern wie Karl Marx, sondern auch bei liberalen Theoretikern wie Adam Smith, Ricardo, John Stuart Mill oder Friedrich Hayek.

Welche Pläne hast du für den Ruhestand?

Ich bleibe hoffentlich noch lange ein denkender Mensch und werde weiter wissenschaftlich/publizistisch arbeiten. Als Sozialwissenschafter brauche ich dafür anders als ein Naturwissenschafter kein Labor, sondern nur einen Schreibtisch, einen PC und Menschen, mit denen ich mich austauschen kann. Gleichzeitig bin ich ehrlich gesagt froh, dass künftig viele administrative Pflichten wegfallen werden und ich mich mehr auf das konzentrieren kann, was mir politisch wichtig ist, und einfach auf das, was mir Freude bereitet.

 

------------------------------------

1John Rawls (1971), A Theory of Justice, Harvard University Press.

2Hans Albert (1967): Marktsoziologie und Entscheidungslogik, Luchterhand Verlag.

Ansprechpersonen

Prof. Dr. Michael Graff
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
  • LEE G 206
  • +41 44 632 09 89

KOF Konjunkturforschungsstelle
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Thomas Domjahn
  • LEE F 114
  • +41 44 632 53 44

KOF Bereich Zentrale Dienste
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Ähnliche Themen

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert