Zwischen Marktmacht und Arbeitsrechten: Die Auswirkungen des Saisonnierstatuts für die Löhne von Zugewanderten

Das 2002 in der Schweiz abgeschaffte Saisonnierstatut knüpfte Aufenthaltsbewilligungen an den Arbeitgeber. Gemäss der Monopsontheorie verleiht eine solche Regelung den Arbeitgebern höhere Verhandlungsmacht in der Lohnfestsetzung und könnte Lohndruck begünstigen. Dieser Artikel untersucht diese These und deutet darauf hin, dass die durch die Personenfreizügigkeit gestärkten sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Zugewanderten zu einer Verringerung der Lohnunterschiede beigetragen haben könnten.

Temporäre Arbeitsvisa haben in vielen Ländern eine lange Tradition zur Bewältigung von Arbeitskräftemangel. Auch die Schweiz hatte mit dem Saisonnierstatut über Jahrzehnte ein ausgebautes System zur gezielten Rekrutierung von Arbeitskräften für Branchen und Regionen, die ihren Bedarf in gewissen Zeitperioden nicht im Inland decken konnten. Während sich die genauen Regelungen von Land zu Land und je nach Zeitraum unterscheiden, sind zwei Aspekte fast allen Gastarbeitsprogrammen gemein: die Aufenthaltsbewilligung ist befristet und sie ist an eine bestimmte Arbeitsstelle geknüpft. Letzteres führt dazu, dass ein Wechsel des Arbeitgebers erschwert wird und oft mit dem Risiko verbunden ist, die Aufenthaltsbewilligung zu verlieren. Diese institutionelle Einschränkung der Arbeitsmarktmobilität schwächt die Verhandlungsposition der Arbeitskräfte und verleiht den Unternehmen Marktmacht. In der Arbeitsmarktforschung wird dieses Phänomen als Monopsonmacht bezeichnet. Im Zusammenhang mit Gastarbeitsprogrammen wird argumentiert, dass diese die Verhandlungsposition der Arbeitskräfte schwächen und dadurch Diskriminierung und Lohndumping begünstigen können (Norlander, 2021).

Diese Kritik ist nicht neu. Menschenrechtsorganisationen, linke Parteien und Gewerkschaften sowie die (ehemaligen) unter dem Saisonnierstatut Beschäftigten selbst kritisieren Gastarbeitsprogramme schon lange wegen der schwierigen Bedingungen (Mahnig & Piguet, 2003). In der Schweiz wurde das Saisonnierstatut 2002 mit Einführung der Personenfreizügigkeit auch aufgrund dieser Kritik abgeschafft. Gastarbeitsprogramme existieren jedoch weiterhin – beispielsweise in Spanien, wo gezielt marokkanische Mütter als Erntehelferinnen rekrutiert werden (Glass et al., 2014). Auch in der Schweiz kommt die Forderung nach der Wiedereinführung des Saisonnierstatuts regelmässig wieder auf, selbst wenn sie bisher nicht breit diskutiert wurde.1

Dieser Artikel untersucht die Auswirkungen des Saisonnierstatuts in der Schweiz auf die Löhne von Saisonniers. Unter dem Kontingentierungssystem war die Arbeitsmarktmobilität der Saisonniers stark eingeschränkt, was ihre Verhandlungsmacht gegenüber den Arbeitgebern begrenzte. Mit der Einführung der Personenfreizügigkeit und des Rechts auf geografische und berufliche Mobilität hat sich das Machtgefüge zugunsten der Beschäftigten verschoben. Der Monopsontheorie folgend ist daher zu erwarten, dass die Löhne saisonal oder temporär beschäftigter Migrantinnen und Migranten nach 2002 gestiegen sind. Diese Analyse geht dieser These nach. Dazu wurde untersucht, wie sich die Löhne von Arbeitskräften mit Saisonbewilligung (nach 2002: mit Kurzaufenthaltsbewilligung) im Vergleich zu den Löhnen von Arbeitskräften mit Schweizer Pass vor und nach Einführung der Personenfreizügigkeit entwickelten. Die Analyse stützt sich auf die schweizerische Lohnstrukturerhebung (LSE), einer repräsentativen Erhebung der Löhne bei Schweizer Unternehmen durch das Bundesamt für Statistik (BFS).

Grafik G 3 zeigt zunächst, dass die Löhne der Saisonniers im Vergleich zu Arbeitskräften mit Schweizer Pass Mitte der 1990er Jahre über ein Drittel tiefer waren. Nach Einführung der Personenfreizügigkeit sank der Lohnunterschied zwischen Personen mit Kurzaufenthaltsbewilligung, welche die Saisonbewilligung weitgehend ersetzte, und Arbeitskräften mit Schweizer Pass kontinuierlich. Mit der Personenfreizügigkeit hat sich jedoch auch die Zusammensetzung der Zugewanderten verändert.2 Die Arbeitskräfte mit Kurzaufenthaltsbewilligung sind im Vergleich zu den früheren Saisonniers im Durchschnitt besser ausgebildet und sie arbeiten weniger häufig in den typischen Saisonbranchen Bau oder Gastgewerbe und häufiger in anderen, teilweise besser zahlenden Branchen. In der folgenden Analyse werden diese und weitere Faktoren, welche für die Lohnsetzung erfahrungsgemäss relevant sind, als Kontrollvariablen berücksichtigt. Die zentrale Frage lautet, ob die Veränderungen in der Zusammensetzung der Zuwanderung den Rückgang der Lohnunterschiede über die Zeit erklären können. Falls dies nicht der Fall ist, kann dies als Indiz gewertet werden, dass die gestärkten Rechte der Migrantinnen und Migranten im Rahmen der Personenfreizügigkeit dazu geführt haben, dass diese erfolgreich höhere Löhne fordern konnten.

Grafik G 4 zeigt den geschätzten Einfluss des Aufenthaltsstatus auf den Lohn für drei Regressionsmodelle. Im Modell 1 werden als Kontrollvariablen Humankapitalvariablen, demographische Variablen und die Region berücksichtigt. Konkret sind dies der höchste Bildungsabschluss, die potenzielle Erfahrung3, die Betriebszugehörigkeit, das Geschlecht, der Zivilstand und die Arbeitsmarktregion4. Der resultierende Koeffizient für die Saisonniers im Jahr 1996 zeigt, dass, wenn man diese Faktoren statistisch konstant hält, ein unerklärter Lohnunterschied von 17% zu den Schweizer Arbeitskräften bestehen bleibt. Direkt nach Einführung der Personenfreizügigkeit, im Oktober 2002, ist noch keine Veränderung der Lohndifferenz sichtbar. Es ist zu erwarten, dass sich ein allfälliger Effekt der angepassten Aufenthaltsbewilligungen frühestens nach Ablauf der im Frühling 2002 vergebenen und noch bis Ende 2002 gültigen Saisonbewilligungen manifestieren würde. In den darauffolgenden Jahren sinkt der Lohnunterschied tatsächlich deutlich, auf 7–10%.

Im Modell 2 wird zusätzlich die Tätigkeit, die berufliche Stellung und die Branche des Arbeitgebers als Kontrollvariable berücksichtigt. Da Saisonniers häufig in Berufen und Branchen mit tiefen Löhnen arbeiteten, sinkt der Lohnunterschied vor 2002 auf 7–10%. Obwohl aber Arbeitskräfte mit Kurzaufenthaltsbewilligung nach 2002 vermehrt auch in besser zahlenden Berufen und Branchen tätig waren, bleibt der Rückgang des Lohnunterschieds im Vergleich zum Modell 1 fast gleich gross. Das deutet darauf hin, dass die Veränderungen in der Berufs- und Branchenzusammensetzung diesen Rückgang nur zu einem kleinen Teil erklären können.

Das Modell 3 berücksichtigt als Kontrollvariablen statt Branche und Arbeitsmarktregion jedes einzelne Unternehmen. Das heisst, es werden nur noch die Löhne der in den kontrollierten Dimensionen ähnlichen Angestellten desselben Unternehmens verglichen. Zunächst ist interessant, dass die Kontrolle bezüglich des Unternehmens im Modell 3 die Lohnunterschiede vor 2002 weiter reduziert. Das kann so interpretiert werden, dass Saisonniers innerhalb der Branchen eher in den schlecht zahlenden Unternehmen arbeiteten, während Schweizer Arbeitskräfte eher in den gut zahlenden Unternehmen vertreten waren. Nach 2002 scheint dies hingegen nicht mehr der Fall zu sein – dies würde bedeuten, dass die neu zugewanderten Kurzaufenthalterinnen und Kurzaufenthalter nicht nur vermehrt in anderen Branchen und besser bezahlten Positionen arbeiteten, sondern auch den Weg in die besser zahlenden Firmen fanden.

Insgesamt zeigt die Analyse, dass der unerklärte Lohnunterschied zwischen Arbeitskräften mit Kurzaufenthaltsbewilligung und solchen mit Schweizer Pass nach 2002 deutlich geringer ist als zuvor der Lohnunterschied zwischen Arbeitskräften mit Saisonbewilligung und solchen mit Schweizer Pass. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Löhne dieser Migrantinnen und Migranten gemessen an ihrer Arbeitsproduktivität zu tief waren und die Stärkung ihrer Rechte mit der Einführung der Personenfreizügigkeit zur Verringerung der Lohnunterschiede beigetragen hat. Die Ergebnisse reihen sich ein in jene neuerer Studien zu Gastarbeitsprogrammen, die zeigen, dass die Bindung von Aufenthaltsstatus an den Arbeitgeber die Gefahr von Lohnunterbietung birgt.

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1Die SVP forderte die Wiedereinführung des Saisonnierstatuts im Rahmen ihrer Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» (Mariani, 2014). Kürzlich wurde die Forderung zudem im Zusammenhang mit dem Arbeitskräftemangel wieder geäussert (Hohler, 2023).

2Weitere Zahlen und Grafiken zur veränderten Zusammensetzung sind in der langen Version des Artikels zu finden.

3Die potenzielle Erfahrung berechnet sich aus dem Alter minus die Anzahl Ausbildungsjahre minus 5 Jahre.

4Die potenzielle Erfahrung und die Betriebszugehörigkeit sind inklusive quadratischem Term. Geschlecht und Zivilstand werden zusätzlich interagiert.

Der vorliegende Artikel basiert auf: Schüpbach, Kristina (2023): Zwischen Marktmacht und Arbeitsrechten: Die Auswirkungen des Saisonnierstatuts für die Löhne von Migrant:innen. KOF Analysen, vol. 2023: no. 3, Zurich: KOF Swiss Economic Institute, ETH Zurich, 2023.

Literatur

Glass, C. M., S. Mannon, & P. Petrzelka (2014): Good mothers as guest workers. International Journal of Sociology, 44(3), 8–22.

Hohler, D. (2023): Hotelier fordert die Rückkehr der Saisonniers. Der Bund. externe Seitehttps://www.derbund.ch/berner-hotelier-fordert-rueckkehr-der-saisonniers-402715550118

Mahnig, H. & E. Piguet (2003): Die Immigrationspolitik der Schweiz von 1948 bis 1998. In H.-R. Wicker, R. Fibbi, & W. Haug (Hrsg.), Migration und die Schweiz. Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms «Migration und interkulturelle Beziehungen» (S. 65–108). Seismo Verlag.

Mariani, D. (2014): Die Auferstehung des Saisonnier-Statuts. swissinfo.ch. externe Seitehttps://www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/arbeitsbewilligungen_die-auferstehung-des-saisonnier-statuts/37748944

Norlander, P. (2021): Do guest worker programs give firms too much power? IZA World of Labor, 484.

Ansprechperson

Kristina Schüpbach
  • LEE G 207
  • +41 44 632 04 45

KOF FB Arbeitsmarktökonomie
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Schweiz

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