Die Personenfreizügigkeit hatte keinen Einfluss auf die Zahl an Lehrstellen

Wirkte sich die Personenfreizügigkeit negativ auf die Bereitschaft von Schweizer Unternehmen aus, Lernende auszubilden? Eine neue Studie zeigt, dass die Zahl an Lehrstellen wegen der Grenzöffnung in den ersten Jahren nicht zurückging. Die Motive, warum Unternehmen Lernende ausbilden, veränderten sich aber, weil es für sie einfacher und günstiger wurde, passende Mitarbeitende extern zu rekrutieren.

Hängt die Bereitschaft von Unternehmen, Lernende auszubilden, davon ab, wie einfach es für sie ist, auf dem externen Arbeitsmarkt qualifizierte Arbeitskräfte zu rekrutieren? Theoretisch ist dies denkbar und auch die empirische Literatur, warum Unternehmen Lernende ausbilden, weist auf einen potenziellen Zielkonflikt zwischen dem Angebot an qualifizierten Arbeitskräften im externen Arbeitsmarkt und der Bereitschaft der Unternehmen zur Ausbildung hin. Der Zielkonflikt wird auch als «make or buy»-Entscheidung bezeichnet.

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Politiker und Beobachterinnen des Schweizer Arbeitsmarktes die Befürchtung äusserten, dass die Personenfreizügigkeit auf Kosten der Lehrlingsausbildung in Schweizer Unternehmen gehen könnte. Schliesslich führte diese zu einer kompletten Arbeitsmarktöffnung für Bürgerinnen und Bürger aus dem EU/EFTA-Raum: Sie hatten fortan freien Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt. Damit erhöhte sich die Zahl gut qualifizierter, externer Arbeitskräfte, auf die Schweizer Unternehmen barrierefrei zurückgreifen konnten, massiv.

In einer kürzlich im wissenschaftlichen Fachjournal «Labour Economics» veröffentlichten Studie untersuchen Maria Esther Egg-Oswald (ETH Zürich) und KOF Arbeitsmarktexperte Michael Siegenthaler vor diesem Hintergrund, wie sich die Personenfreizügigkeit auf die Lehrlingsausbildung in der Schweiz in den ersten Jahren nach ihrem Inkrafttreten auswirkte.

Unternehmen in Grenznähe stärker von der Personenfreizügigkeit betroffen

Die beiden machen sich zur Beantwortung dieser Fragestellung die Tatsache zunutze, dass das lokale Angebot an qualifizierten Arbeitskräften für Unternehmen in Grenznähe stärker wuchs als für grenzfernere Unternehmen. Der Grund: Die Personenfreizügigkeit hob auch die zuvor bestehenden Beschränkungen für die Anstellung von Grenzgängerinnen und Grenzgängern aus den Nachbarländern der Schweiz auf. Wie Siegenthaler in einer früheren Studie zusammen mit drei Co-Autoren zeigen konnte (vgl. Beerli, Ruffner, Siegenthaler, Peri 2021), führte dies dazu, dass Unternehmen in unmittelbarer Grenznähe nach 2000 wesentlich mehr EU-Arbeitskräfte einstellten als grenzferne Unternehmen. Ein wesentlicher Teil der neu eingestellten EU-Arbeitskräfte waren gut qualifiziert.

In Anlehnung an die frühere Studie analysieren Oswald-Egg und Siegenthaler daher die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf die Lehrlingsausbildung mit Hilfe eines sogenannten Differenz-in-Differenzen (DiD)-Verfahrens. Die Autoren untersuchen, ob sich die Zahl der Lehrstellen in Unternehmen in Grenznähe anders entwickelte als in Unternehmen in grösserer Entfernung zur Grenze. Für ihre Analysen verwenden Oswald-Egg und Siegenthaler zwei Datensätze: Erstens die Schweizer Betriebszählungen der Jahre 1995 bis 2008, die in den Erhebungsjahren für alle Betriebe der Schweiz den Lehrlingsbestand und die Beschäftigung von Ausländerinnen und Ausländern aufzeigen.

Zweitens greifen sie auf äusserst facettenreiche Daten zu den Kosten und Nutzen der Lehrlingsausbildung der Schweiz zurück. In diesen Erhebungen wurden in den Jahren 2000, 2004 und 2009 Stichproben von insgesamt rund 11 000 Betrieben zu Kosten und Nutzen der Lehrlingsausbildung gemacht. Auch die Kosten zur Rekrutierung externer Fachkräfte werden in den Erhebungen im Detail erfasst.

Grenznahe Unternehmen bilden weniger Lernende aus

Bevor die Autoren die Effekte der Personenfreizügigkeit analysieren, untersuchen sie mit Hilfe der Betriebszählungsdaten, ob die Ausbildungsneigung mit der Grenznähe zusammenhängt. In den Daten kann jeder Betrieb mit Hilfe von Geokoordinaten exakt geografisch verortet werden. In den Daten zeigt sich ein recht starker Zusammenhang zwischen Lehrlingsausbildung und Grenznähe: Unternehmen in Grenznähe haben eine ungefähr 5 Prozentpunkte oder 25% geringere Wahrscheinlichkeit, Lernende auszubilden, als Betriebe, die weiter von der Grenze entfernt sind (vgl. Grafik G 1).

Auch die Zahl an Lernenden ist in Unternehmen in Grenznähe deutlich geringer. Umgekehrt beschäftigen Unternehmen nahe der Grenze deutlich mehr Grenzgängerinnen und Grenzgänger. Bedeutet dies, dass Grenzgängerinnen und Grenzgänger die Lernenden substituieren?

Die Personenfreizügigkeit reduzierte die Zahl an Lehrstellen nicht

Die Antwort auf diese Frage liefern die kausalen Schätzungen mittels DiD-Verfahren und sie lautet: nein. Grenzgänger und die Bereitstellung von Lehrstellen waren zumindest in den ersten Jahren nach Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit keine Substitute. Die begutachtete Studie zeigt zwar analog der früheren Studie, dass grenznahe Unternehmen wesentlich mehr zusätzliche Ausländerinnen und Ausländer beschäftigten als grenzfernere Unternehmen. Das gilt auch für Unternehmen, die Lernende ausbilden. Trotzdem entwickelte sich die Zahl der Lehrstellen in grenznahen und grenzfernen Unternehmen ähnlich (vgl. Grafik G 2).

Auch die Wahrscheinlichkeit, überhaupt Lernende auszubilden, entwickelte sich in beiden Regionen ungefähr gleich. Beide Beobachtungen legen nahe, dass die Grenzöffnung keinen Einfluss auf die Anzahl der Lehrstellen hatte, selbst in stark betroffenen Betrieben innerhalb weniger Minuten Fahrzeit zur Grenze. Diese Resultate suggerieren auch, dass der Zusammenhang in Grafik G 1 nicht zwingend kausal ist: Unternehmen in Grenznähe bilden möglicherweise nicht wegen den Grenzgängern weniger Lernende aus als Unternehmen im Innern der Schweiz. Es könnte auch ein dritter Faktor hinter der negativen Korrelation stehen.

In weiteren Analysen geht die publizierte Studie der Frage nach, warum die Personenfreizügigkeit keinen messbaren Einfluss auf die Lehrlingsausbildung hatte. Es zeigt, dass dies an zwei gegenläufigen Effekten lag, die sich im Schnitt aufhoben: ein Kosten- und ein Skaleneffekt.

Die Personenfreizügigkeit veränderte die Ausbildungsmotive

Der Kosteneffekt zeigt sich darin, dass die Einstellung von Fachkräften im externen Arbeitsmarkt für Unternehmen wegen der Personenfreizügigkeit einfacher und billiger wurde. In den Kosten-Nutzen-Daten zeigt sich dies etwa darin, dass es für Unternehmen wegen der Personenfreizügigkeit einfacher wurde, Arbeitskräfte zu finden, die den unternehmensspezifischen Anforderungen entsprachen.

Die Personenfreizügigkeit senkte auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein Betrieb in der Befragung Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Fachkräften oder ein nicht ausreichendes, lokales Angebot an Fachkräften rapportiert. Die Folge war eine deutliche Senkung der Kosten für die Einstellung von Fachkräften: Oswald-Egg und Siegenthaler schätzen, dass die Grenzöffnung die Zeit, bis neu eingestellte Arbeitnehmende ihre volle Produktivität erreichen, um 12% verringerte. Neu eingestellte Fachkräfte wurden in dieser Anpassungszeit auch um 11% produktiver.

Dieser Kostenrückgang hatte – wie man aufgrund von «make or buy»-Überlegungen erwarten würde – Auswirkungen auf die Ausbildungsmotive der Unternehmen: Wegen der Personenfreizügigkeit gab es in Grenznähe weniger Unternehmen, die in der Befragung angaben Lernende auszubilden, um die Kosten für externe Einstellungen zu sparen oder weil es schwierig war, Arbeitskräfte auf dem externen Arbeitsmarkt zu finden.

Unternehmen in Grenznähe wuchsen überproportional stark

Warum kam es trotz dieser Veränderung in den Ausbildungsmotiven nicht zu einem Rückgang der Zahl der Lehrstellen in Grenznähe? Der Grund ist der gegenläufige Skaleneffekt: Die Personenfreizügigkeit hatte gemäss der neuen Studie – in Übereinstimmung mit ähnlichen Resultaten in der früheren Studie – einen bedeutenden, positiven Effekt auf die Unternehmensgrösse, insbesondere im verarbeitenden Gewerbe und im privaten Dienstleistungssektor. Das heisst: Die Unternehmen in Grenznähe wuchsen dank der gut qualifizierten ausländischen Arbeitskräfte überproportional stark.

So kam es trotz rückläufigem Lehrlingsanteil an der Beschäftigung nicht zu einem Rückgang der Zahl an Lernenden. Ausnahme in dieser Hinsicht ist der Bausektor. Hier hatte die Personenfreizügigkeit keinen messbar positiven Einfluss auf die Betriebsgrösse. Entsprechend finden Oswald-Egg und Siegenthaler auch gewisse Hinweise, dass die Grenzöffnung im Bausektor die Zahl an Lehrstellen leicht reduzierte.

Literatur

Oswald-Egg, M. E. & M. Siegenthaler (2023): Train drain? The availability of foreign workers and firmsʼ willingness to train, Labour Economics, 85(12), 10243.

Beerli, A., J. Ruffner, M. Siegenthaler, & G. Peri (2021): The abolition of immigration restrictions and the performance of firms and workers: evidence from Switzerland. American Economic Review, 111(3), 976–1012.
 

Ansprechpartner

Dr. Michael Siegenthaler
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
  • LEE G 301
  • +41 44 633 93 67

KOF Konjunkturforschungsstelle
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

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