Die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung in der Pandemie

Wie erging es den Schweizern und Schweizerinnen in den ersten zwei Wellen der COVID-19-Pandemie? Anhand von Daten der «Dargebotenen Hand» und Swisscom zeigt eine Analyse von Marc Anderes und Stefan Pichler, dass Anrufe zur Helpline «Die Dargebotene Hand» kurz nach Ausbruch der Pandemie signifikant anstiegen.

Die COVID-19-Pandemie führte zu drastischen Massnahmen zur Senkung der Infektionsraten. Der Fokus lag dabei auf sozialer Distanzierung und ganz allgemein einer Verringerung der Mobilität, was temporär zu einem markanten Rückgang der Wirtschaftstätigkeit führte. Neben wirtschaftlichen Erwägungen ist es allerdings wichtig, die umfassenderen Folgen der Pandemie und der damit verbundenen sozialen Kosten zu verstehen. Wie erging es der Schweizer Bevölkerung nach Ausbruch der Pandemie? Falls sich negative Konsequenzen zeigten, war diese Veränderung temporär oder langfristig?

Wie misst man die psychische Gesundheit einer Bevölkerung?

Der Gesundheitszustand einer Bevölkerung ist schwierig zu messen. Eine verbreitete Methode besteht im Erheben von Umfragen, was aufgrund des damit verbundenen Aufwandes allerdings oft nur in grösseren zeitlichen Abständen möglich ist. Neue Ansätze zur Messung des öffentlichen Wohlbefindens bestehen in der Auswertung des Onlineverhaltens, also z.B. die Anzahl der Suchanfragen mit Bezug zu Trauer oder Angst, oder der Analyse von Telefondaten. Ein Vorteil dieser Methoden gegenüber klassischen Ansätzen besteht darin, dass die Daten einerseits täglich verfügbar und andererseits in Echtzeit auswertbar sind. Dies kann während einer Pandemie von Vorteil sein, da es zum Beispiel eine zeitnahe Politiksteuerung ermöglicht.

Eine Analyse der Ökonomen Marc Anderes und Stefan Pichler verwendet maschinell erfasste Anrufdaten der bekannten Schweizer Beratungsstelle «Die Dargebotene Hand» (DH), um die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie zu untersuchen. Die DH ist ein Telefondienst, welcher rund um die Uhr kostenlose Telefonseelsorge in allen Regionen der Schweiz anbietet. Die Datenbasis enthält dabei nicht nur die Grundgesamtheit an Anrufen (inkl. unbeantworteter Anrufe), sondern auch eine anonymisierte Identifikationsnummer für jeden Anrufer.1

Deutlicher Anstieg der Hilfesuchenden nach Ausbruch der ersten Welle

In einem ersten Schritt vergleichen die Autoren die Anzahl Anrufe wie auch die gesamte Anrufdauer nach Ausbruch der Pandemie mit früheren Perioden. Grafik G 7 zeigt für die Jahre 2019 (blau) und 2020 (rot) die tägliche Anzahl Anrufe («Total calls», links) und die tägliche Anrufdauer in Minuten («Total duration», rechts) für die erste Welle («First wave», oben) und die zweite Welle («Second wave», unten). Die schwarze vertikale Linie weist auf den Start der ersten (25. Februar 2020) respektive der zweiten Welle (19. Oktober 2020) hin. Die Grafik zeigt, dass nach Ausbruch der ersten Welle die Anrufe wie auch die Anrufdauer stark anstiegen. Im Gegensatz dazu findet sich kein solcher Anstieg im vorangehenden Jahr. Die Effekte sind allerdings temporärer Natur, da sich das Anrufvolumen nach rund 4 bis 5 Monaten wieder auf dem Niveau des Vorjahres normalisiert hat. Interessanterweise ist von der zweiten Welle, welche im Herbst 2020 ausbrach, bei der «Dargebotenen Hand» wenig zu spüren. Gründe dafür dürften die weniger strengen Massnahmen wie auch Gewöhnungseffekte von Seiten der Bevölkerung sein.

Doch was verursacht den Anstieg der Anrufe? Brauchen mehr Menschen telefonische Hilfe («extensive margin») oder brauchen Hilfesuchende, die bereits vor der Pandemie angerufen haben, mehr Hilfe als zuvor («intensive margin»)? Grafik G 8 vergleicht die 20 Wochen nach Ausbruch der ersten Welle mit der Zeit vor der Pandemie und zeigt, dass beides zutrifft. Von Personen, welche vor COVID bereits angerufen hatten, wuchs die Gesamtzahl der Anrufe um 19% und die Anrufdauer um 16%. Allerdings expandierte auch die Anzahl der Anrufenden um 9%, wie im rechten Feld von Grafik G 8 zu sehen ist. Ein wichtiger Grund für diese Zunahme sind die Erstanrufer (+28%), was die Bedeutung der Beratungsstellen als breit zugängliche Anbieter psychosozialer Dienste unterstreicht.

Schliesslich untersuchen die Autoren, inwiefern die gestiegene Nachfrage aus der Bevölkerung zu Kapazitätsbeschränkungen bei der Helpline führte. Dabei isolieren sie auch Anrufversuche, welche innerhalb von 24 Stunden nicht von der Helpline beantwortet wurden, um ein Mass für den ungedeckten Bedarf («unmet need») nach Hilfe zu berechnen. Grafik G 9 präsentiert Regressionskoeffizienten mit 95%-Konfidenzintervallen, welche einen Vergleich zwischen der aktuellen Woche und der letzten Woche vor Ausbruch der Pandemie darstellen. Ist ein Koeffizient zum Beispiel bei 5%, so ist das Anrufvolumen in jener Woche 5% höher als in der Woche vor dem ersten registrierten COVID-19-Fall (25. Februar 2020). Die Ergebnisse zeigen, dass die Schweizer Helpline mit ausgeprägten Kapazitätsengpässen zu kämpfen hatte. Zwölf Wochen nach Ausbruch der Pandemie war die Zahl der unbeantworteten Anrufe um 75% höher als in der Ausgangswoche (Grafik in der Mitte). Zieht man die Zahl der unbeantworteten Anrufe von der Gesamtzahl der Anrufe ab, so ergibt sich nur ein gedämpfter Anstieg der Zahl der beantworteten Anrufe (Grafik links). Die Autoren stellen zudem fest, dass Kapazitätsengpässe einen Anstieg des ungedeckten Bedarfs verursachen (Grafik rechts), der sich nach sieben Wochen fast verdoppelt. Diese Entwicklungen sind allerdings nur temporär.

Fazit

Die Analyse zeigt, dass nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie die Nachfrage der Bevölkerung nach psychologischer Hilfe signifikant anstieg, was zu Kapazitätsengpässen und unbeantworteten Kontaktversuchen führte. Getrieben wurde diese Entwicklung durch Personen, welche früher bereits bei der DH angerufen hatten, aber auch von einer Vielzahl von neuen Anrufenden, was die gesellschaftliche Relevanz der Hotline unterstreicht. Der Anstieg des Anrufvolumens beschränkte sich auf die erste Welle, was an Gewöhnungseffekten seitens der Bevölkerung und dem Ausbleiben eines Lockdowns während der zweiten Welle liegen dürfte.

 

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1Die Daten enthalten keine Gesprächsinhalte und lassen keinen Rückschluss auf Anrufende zu.

Ansprechpersonen

Dr. Marc Anderes
  • LEE G 210
  • +41 44 632 75 48

KOF Konjunkturforschungsstelle
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Stefan Pichler
Associate Professor of Public Health at the Department of Economics, Econometrics and Finance at the University of Groningen

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