Künstliche Intelligenz und zweifache Stimmabgabe: Eine Idee zur Neuerfindung der direkten Demokratie

Es gibt viele Bedenken, dass sich Künstliche Intelligenz (KI) negativ auf die Debattenkultur und demokratische Prozesse auswirken könnte, da die Möglichkeiten zur Produktion von Fake News immer ausgefeilter werden. Doch KI eröffnet auch neue Wege zur Organisation der Demokratie. Sie könnte es ermöglichen, die direkte Demokratie neu zu erfinden. Hans Gersbach (KOF) und César Martinelli (George Mason University) untersuchen diese Möglichkeiten und stellen in diesem Artikel eine Kernidee vor.

Bisher ist die direkte Demokratie eine Regierungsform, die nur in wenigen Ländern angewandt wird, vor allem in der Schweiz und in Kalifornien. Jüngste Entwicklungen der generativen KI, sei es als Sprachmodelle der ChatGPT-Serie oder als bildgenerierende Werkzeuge, lassen vermuten, dass bald völlig neue Wege zur Organisation der Demokratie eröffnet werden. Die direkte Demokratie des schweizerischen oder kalifornischen Typs kann in erheblichem Masse modifiziert und erneuert werden.

Hans Gersbach und César Martinelli nennen eine solche Demokratie «KI-unterstützte direkte Demokratie» («Supporter Democracy»). Dieses aktualisierte Demokratiemodell könnte ein attraktives Modell für den Rest der Welt werden – auch für die Schweiz –, da es die üblichen Argumente gegen die direkte Demokratie ausräumen kann, dass die Bürger nicht die notwendigen Anreize haben, sich Informationen zu beschaffen, um über komplexe politische Vorschläge abzustimmen, und dass ihre Abstimmungsentscheidungen von kurzfristigen, wenn nicht gar rein emotionalen Erwägungen geleitet sein könnten.

Ein KI-Assistent lernt die Vorlieben und Werte der Bürger

Gersbach und Martinelli schlagen zwei grundlegende Ideen zur Aktualisierung des Modells der direkten Demokratie vor. In einer ersten Phase sollten alle Bürgerinnen und Bürger Zugang zum gleichen Typ von KI-Assistenten (im Folgenden «digitaler Bürger» oder «DB» genannt) haben, der auf zwei Dinge trainiert wird: Erstens lernt der KI-Assistent die Vorlieben und Werte dieses Bürgers durch einen Frage-Antwort-Prozess und durch weitere Daten mit dem Ziel, einen digitalen Bürger-Zwilling seines Benutzers zu schaffen. Dieser digitale Zwilling repliziert die Werte und Präferenzen des Bürgers so gut wie möglich.

Zweitens kann der DB mit grossen Datenbanken an Wissen trainiert werden, das für die Entscheidung über bestimmte politische Vorschläge relevant ist. Ein solcher trainierter DB könnte dann vorschlagen, wie der Bürger, den er repliziert, über bestimmte politische Vorschläge (Initiativen, Referenden oder Gesetze, die im Parlament zur Abstimmung stehen) abstimmen würde/sollte, wenn ein solcher Vorschlag dem Status quo gegenübergestellt wird und die Bürger somit vor einer binären Entscheidung stehen.

Durch «zweifache» Stimmabgabe» behalten die Bürger ihr Entscheidungsrecht

In einer zweiten Phase können die Bürger mit Hilfe ihrer digitalen Bürger abstimmen. Dies könnte in einer einzigen Abstimmungsrunde über eine binäre Entscheidung geschehen. Da die Bürger ihren digitalen Bürgern jedoch möglicherweise nicht vertrauen oder die digitalen Bürger sogar manipuliert werden könnten, schlagen Gersbach und Martinelli vor, mit dem folgenden Abstimmungsverfahren vorzugehen (genannt «zweifach abstimmen»). In der ersten Abstimmungsrunde zu einer bestimmten binären Frage stimmen die DBs aller Bürger ab und die Aggregation dieser Stimmen ergibt ein Ergebnis, das veröffentlicht wird. In der zweiten Abstimmungsrunde stimmen die Bürger selbst ab. In dieser zweiten Abstimmungsrunde folgen die Bürger entweder der Empfehlung ihrer DBs, sie folgen ihr nicht oder sie enthalten sich der Stimme. Die Bürger behalten also ihr Entscheidungsrecht, wenn sie es vorziehen, die Entscheidung des DBs nicht nachzuvollziehen. Das Ergebnis, das umgesetzt wird, ist das Abstimmungsergebnis der zweiten (menschlichen) Phase.

Wie beim Prinzip «eine Person – eine Stimme» sind natürlich auch hier der gleiche Zugang zu einem DB und die Standardisierung der Qualität der digitalen Bürger von entscheidender Bedeutung. Dies müsste durch Regeln in Wahlgesetzen festgelegt werden und vom Staat durchgesetzt werden. Ausserdem sind viele Varianten des Verfahrens möglich. Zum Beispiel könnte man den Bürgern erlauben, ihre DBs nicht an der ersten Runde teilnehmen zu lassen. Man könnte ihnen auch gestatten, die digitalen Bürger überhaupt nicht zu benutzen, so dass sie erst im zweiten Wahlgang abstimmen.

Der digitale Bürger kann ein Experte werden

Die Supporter Democracy ermöglicht es den Bürgern, auf einem Informationsniveau abzustimmen, das dem von jemandem nahekommt, der viel Zeit mit einem Thema verbracht hat. Der DB könnte sogar ein Experte sein, wenn er für ein bestimmtes Thema ausreichend geschult ist, so dass ein Bürger, der sich der Entscheidung seines DBs unterwirft, sicher sein kann, so zu entscheiden, als ob er selbst ein Experte wäre. Die nächste Generation der Künstlichen Intelligenz wird noch besser in der Lage sein, fundierte Entscheidungen zu treffen und damit die Reichweite und Qualität der Demokratie zu verbessern. Ein hoch entwickelter DB kann zudem verschiedene Perspektiven abwägen, z. B. eine langfristige Sichtweise gegenüber einer kurzfristigen Perspektive.

Befürchtungen, dass ein DB Fehler macht, voreingenommen lernen, halluzinieren oder sogar manipuliert werden könnte, werden durch unser Verfahren ausgeräumt: Durch die zweifache Stimmabgabe können die Bürgerinnen und Bürger sehen, wie sich die digitalen Bürger im ersten Wahlgang entscheiden würden. Sie haben die Möglichkeit, sich selbst zu informieren und im zweiten Wahlgang nach eigenem Gutdünken abzustimmen, wenn sie Zweifel an der Entscheidung der digitalen Bürger haben.

Die Hoffnung auf mehr Weitsicht bei kollektiven Entscheidungen

Insgesamt erwarten Gersbach und Martinelli, dass die Ergebnisse der Supporter Democracy es den Bürgern ermöglichen würden, so abzustimmen, als ob sie gut informiert wären. Die DBs könnten sie sogar dazu bringen, einige Punkte genauer zu betrachten, wie etwa den Vergleich der kurz- und langfristigen Folgen einer Entscheidung. Dies würde eine grössere Weitsicht bei kollektiven Entscheidungen mit sich bringen. Da letztlich durch die digitalen Bürger gestützte Entscheidungen zu besser informierten Entscheidungen führen, wird die unterstützte Demokratie auch die Leistungsfähigkeit und das Ansehen der direkten Demokratie verbessern.

In einer Demokratie sind die Schlüsselelemente des Entscheidungsprozesses zum einen das Stimmgeheimnis und das gleiche Stimmrecht, zum anderen eine umfassende und genaue Auszählung der Stimmen. Dies muss gewährleistet sein, um sicherzustellen, dass die kollektiven Entscheidungen die wahren Präferenzen der Wähler widerspiegeln und dass die Bürger Vertrauen in die Demokratie haben und sie unterstützen. Mit generativer KI steht den Demokratien plötzlich ein Instrumentarium zur Verfügung, das weitreichende Innovationen ermöglicht und die Schweizer Demokratie zum Exportschlager machen kann.

Natürlich mag die Supporter Democracy für die Schweiz mit ihrer langen Tradition und Erfahrung mit der direkten Demokratie keine oberste Priorität sein. Dennoch könnte die Supporter Democracy für viele Länder ein attraktiveres Modell werden als die heutige direkte Demokratie.

Allerdings ist etwas Vorsicht angebracht. Jedes neue Verfahren, das für die Demokratie vorgeschlagen wird, wie viele unserer Vorschläge (vgl. Hans Gersbach, New Forms of Democracy, Social Choice and Welfare, 2024, im Erscheinen), muss einer eingehenden Prüfung standhalten. Es erfordert ein Training der Bürger und Bürgerinnen und bei der Umsetzung können Nachteile oder unerwartete Nebeneffekte auftreten. Nur weitere Untersuchungen werden zeigen, ob die Supporter Democracy die hier skizzierten Versprechen einhalten kann.

Ansprechpersonen

Prof. Dr. Hans Gersbach
Ordentlicher Professor am Departement Management, Technologie und Ökonomie
  • LEE F 101
  • +41 44 632 82 80

Makroökonomie, Gersbach
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Prof. César Martinelli
Professor of economics at George Mason University

George Mason University

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