«ChatGPT ist nicht der grösste Dichter und Denker unserer Zeit, aber eine zunehmend wichtige Inspirationsquelle»

Johannes Dahlke

Johannes Dahlke, Assistenzprofessor für digitale Innovation und Unternehmertum an der Universität Twente, KOF Research Fellow und ehemaliger Mitarbeiter der Sektion Innovationsökonomik, spricht im Interview über das Potenzial von Künstlicher Intelligenz und erklärt, wie sich der technologische Wandel auf den Arbeitsmarkt und einzelne Berufe auswirken wird.

Vergrösserte Ansicht: KI
Dieses Bild wurde mit der KI-Software DALL-E erzeugt. Es zeigt einen Menschen im Gespräch mit einem Roboter. Experten sind sich einige, dass Künstliche Intelligenz einen verstärkten Einzug in unser Berufsleben und unseren Alltag finden wird. Dabei sind verschiedene Kooperationsmöglichkeiten zwischen Mensch und Maschine denkbar.

Künstliche Intelligenz (KI) gibt es zumindest dem Konzept nach schon seit Langem. Warum hat diese Technologie gerade jetzt mit Anwendungen wie ChatGPT oder Midjourney den Durchbruch geschafft?
Es sind in den letzten Jahren verschiedene Faktoren zusammengekommen: Die Daten, die genutzt werden, um Programme wie Chat GPT zu trainieren, sind mittlerweile massenhaft vorhanden. Hinzu kommt die Verfügbarkeit von grossen Rechenkapazitäten. Und schliesslich haben die Fortschritte in der Forschung zu neuronalen Netzwerken und Sprachmodellen, auf denen ChatGPT und andere KI-Anwendungen beruhen, einen wichtigen Beitrag zum aktuellen KI-Boom geleistet. Das hat vor allem dazu geführt, dass wir mittlerweile sehr diverse Formen von Künstlicher Intelligenz in verschiedenen Bereichen beobachten. Vor allem aber stellen die jüngsten Sprachmodelle grundlegende Plattformen dar, auf deren Basis Drittparteien eine Vielzahl von spezifischen Anwendungen produzieren können. Das beschleunigt die Verbreitung von KI-Nutzung extrem.

«Es liegt an uns, zu erkennen, wie wir Berufe sinnvoll mittels KI anreichern können, anstatt sie für kurzfristige Effizienzgewinne zu opfern.»
Johannes Dahlke, KOF Research Fellow

Wie wird sich der technologische Fortschritt auf den Arbeitsmarkt auswirken? Ist die Angst mancher Menschen vor einem Jobverlust berechtigt?
Es kommt immer darauf an, welche Aufgaben einen Beruf definieren und wie dieses Set von Aufgaben von einer Künstlichen Intelligenz ersetzt oder verändert werden kann. Im Idealfall übernehmen die Künstliche Intelligenz und Roboter langweilige, schmutzige, lästige und anstrengende Arbeiten, so dass der Mensch mehr Zeit für kognitiv höherwertige Aufgaben hat. Wir benutzen dafür in der Wissenschaft den Begriff «Augmentation» und meinen damit eine Erweiterung oder Bereicherung des Jobprofils. Vermutlich wird es in Berufen, für die man mittlere kognitive Fähigkeiten benötigt, Arbeitsplatzverluste geben.

Können Sie dafür konkrete Beispiele geben?
Ich denke da an Werbetexter und Werbetexterinnen, Verwaltungsangestellte, Grafiker und Grafikerinnen oder Komponisten und Komponistinnen von einfacher, massentauglicher, nicht künstlerischer Musik. Berufe, wie z.B. Wissenschafter oder Wissenschafterin, Arzt oder Ärztin, für die man ein starkes systemisches Wissen benötigt, wo also viele Dinge verknüpft werden müssen, wird es auch weiterhin geben. Nur wird zum Beispiel der Arzt oder die Ärztin bei der Diagnose und Behandlung von Krankheiten mit KI-Technologie unterstützt, so dass er oder sie im Idealfall mehr Zeit hat, sich um die Patienten und Patientinnen oder sehr knifflige Krankheitsbilder zu kümmern. Berufe in der Erziehung und der Pflege oder Berufe, für die man handwerkliches Geschick benötigt, werden vermutlich auch nicht so schnell durch KI ersetzt werden können. Man muss aber dazu sagen, dass solche Prognosen aufgrund des aktuell rapiden technologischen Fortschritts schlecht altern.

Wie gehen wir als Gesellschaft mit Menschen um, die ihren Job durch KI verlieren? Schliesslich kann man nicht jeden Busfahrer zum Software-Ingenieur umschulen.
Zunächst sollten wir Berufe als ein Spektrum von Aufgaben verstehen, von denen zumeist nicht alle von KI übernommen werden können. Der oder die Busfahrerin steuert nicht nur das Fahrzeug, sondern ist zum Beispiel auch für die Einhaltung des Hausrechts und Herstellung der Sicherheit im Fahrgastraum zuständig. Deshalb wird es zunächst zu vielen Veränderungen, aber nicht unbedingt direkt zu einem Wegfall der Berufe kommen. Dennoch kann es zu einem verringerten Bedarf an menschlicher Arbeitskraft und somit Stellenabbau in den Berufen führen, in denen die zentrale wertschaffende Aufgabe von einer KI übernommen wird. Hier sollte versucht werden, die Verlierer sozialpolitisch aufzufangen und umzuschulen. Der Busfahrer oder die Busfahrerin muss nicht zwingend zum Software-Ingenieur oder zur Software-Ingenieurin werden, aber er oder sie kann vielleicht gut mit Menschen arbeiten, etwa in der Pflege oder der Erziehung. Wichtig ist, dass die Gewinne durch KI nicht nur bei wenigen landen. Wenn die Verhandlungsmacht der KI-Verlierer sinkt, weil ihre Fähigkeiten nicht mehr gebraucht werden, muss dies durch sozialpolitische Massnahmen ausgeglichen werden. Hinzu kommt, dass das Aktivitätenspektrum, das durch eine Zusammenarbeit von Mensch und Maschine erschlossen wird, grösser ist als das Spektrum von Mensch oder Maschine allein. Es liegt an uns, zu erkennen, wie wir Berufe sinnvoll mittels KI anreichern können, anstatt sie für kurzfristige Effizienzgewinne zu opfern.

Wie muss sich unser Bildungs- und Ausbildungssystem ändern? Müssen wir noch in den Schulen lesen, schreiben und rechnen unterrichten und einen klassischen Wissenskanon vermitteln oder sollten Schüler und Schülerinnen nicht vielmehr schon in der Grundschule das Programmieren lernen?
Programmieren allein ist nicht die Lösung. Mittlerweile können auch die KI-gestützten Sprachmodelle sehr gut programmieren. Wichtiger ist aus meiner Sicht, das kritische Denken zu schulen. Das geschriebene Wort ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, denn der Prozess des Schreibens lehrt uns, zu denken. Weil man dabei Argumente zu Papier bringt und mit sich selbst oder anderen in einen Diskurs tritt. Auch das Studium der Mathematik schult das Denken. Mehr als Instrumente der Problemlösung sollten wir diese Fähigkeiten als Lernprozess verstehen. Deshalb muss man sich dabei auch nicht auf eine reine Leistungsfähigkeit versteifen, sondern den kreativen Einsatz von technischen Hilfsmitteln oder Gruppenarbeit begrüssen. Am Ende müssen wir auch besser darin werden, ein konkretes Verständnis dafür zu entwickeln, wie Technologie in unsere Gesellschaft integriert werden kann.

Ist die Verbreitung von Künstlicher Intelligenz eine Technologie-Revolution vergleichbar mit der Erfindung der Dampfmaschine oder der Elektrizität?
Den Vergleich kann man ziehen, auch wenn es noch zu früh für ein abschliessendes Fazit ist. KI verspricht, wie die Dampfmaschine oder Elektrizität eine «general purpose technology» (Allzwecktechnologie) zu werden, die so gut wie alle Industrie- und Dienstleistungszweige verändert. Diesmal werden allerdings – anders als bei der industriellen Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts – nicht nur manuelle, sondern vor allem kognitive Prozesse durch Technologie ersetzt. Stärker als bei den damaligen Technologiesprüngen birgt KI dadurch das Potenzial, zu mehr Innovation und Veränderung zu führen.

In welchen Bereichen ist der Mensch der KI nach wie vor überlegen?
Künstliche Intelligenzen haben historisch oft einen engen Anwendungsbereich, auch wenn er sich durch Programme wie ChatGPT derzeit ausweitet. In Prozessen, in denen es um Berechnung, Vorhersagen, Optimierung oder Mustererkennung geht, erreichen diese Programme längst übermenschliche Fähigkeiten. Die Fähigkeiten eines Menschen sind aber – zumindest nach dem heutigen Stand des Wissens und der Technik – noch breiter aufgestellt. Menschen haben die Fähigkeit zu Empathie, Emotionen und sozialer Kontextualisierung, was für den Umgang mit anderen Menschen extrem wichtig ist. ChatGPT ist nicht der grösste Dichter und Denker unserer Zeit, aber eine zunehmend wichtige Inspirationsquelle. Zumindest so lange, wie unsere Lebensrealität in sozialen Prozessen durch Menschen geschaffen wird. Aus meiner Sicht ist es wahrscheinlicher, dass sich Künstler und Maschinen in Zukunft gegenseitig inspirieren.

«Wir denken häufig an diese eine übermächtige KI. In Wirklichkeit gibt es aber eine Vielzahl von unterschiedlichen KI-Programmen, die ihrerseits Stärken und Schwächen haben und sich zudem nicht immer einig sind.»
Johannes Dahlke, KOF Research Fellow

Sie forschen zur Anwendung von KI im Schachsport und haben dafür in den USA einen Preis erhalten. Worum geht es in dem Aufsatz?
In dem Aufsatz habe ich mir mit Schachgrossmeistern eine Berufsgruppe angeschaut, die kognitiv sehr hochwertige Arbeit leistet und schon seit 20 Jahren eng verschlungen mit verschiedenen Versionen von KI arbeitet. In dieser Gruppe liegt die KI-Nutzungsrate bei 100%. Die Schachprofis dürfen KI zwar nicht im Wettkampf einsetzen, nutzen aber KI intensiv im Training und in der Vorbereitung. Kreativprozesse und Ideenfindung spielen hier eine entscheidende Rolle. Deshalb kann uns die Studie einen Einblick geben, wie KI künftig auch andere wissensintensive Berufe verändern wird. Man muss einschränkend aber sagen, dass das Berufsfeld der Schachgrossmeister ein Nischenberuf ist und einige Eigenheiten mit sich bringt.

Was sind die wichtigsten Erkenntnisse der Studie?
Man sieht, dass eine Technologie, die dem Menschen technisch in einem engen Kontext überlegen ist – denn die KI gewinnt verlässlich gegen menschliche Gegner –, nicht zwingend dazu führt, dass der Mensch nutzlos wird und der Beruf des Schachspielers ausstirbt. Vielmehr haben sich die Schachgrossmeister darauf spezialisiert, die KI anzuleiten und ihre Ideen zu deuten sowie zwischen verschiedenen Versionen von KI zu vermitteln. Wir denken häufig an diese eine übermächtige KI. In Wirklichkeit gibt es aber eine Vielzahl von unterschiedlichen KI-Programmen, die ihrerseits Stärken und Schwächen haben und sich zudem nicht immer einig sind. Hier wird der Mensch als Entscheidungsträger zum Richter. Um dann eine vorteilhafte Entscheidung zu treffen, muss der Anwendungskontext studiert und menschliche Erfahrung eingebracht werden. Zum Beispiel wird auch antizipiert, wie andere Wettbewerber die Technologie nutzen, um die eigene KI-Nutzung darauf einzustellen. Zum anderen liegt es aber auch entscheidend an den institutionellen Rahmenbedingungen, die den Einsatz von KI im Wettkampf verbietet. Man will sich den Schachsport erhalten und trifft deshalb diese normative Entscheidung. Vor ähnlichen Entscheidungen werden wir auch als Gesellschaft in den nächsten Jahren oft stehen.

Wo steht Europa beim Thema Künstliche Intelligenz im globalen Wettbewerb?

Europa tut sich im technologischen Wettbewerb mit den USA und China insgesamt schwer. Bei der Digitalisierung geben die grossen Konzerne wie Apple, Microsoft, Alphabet, Baidu oder Tencent nach wie vor den Ton an. Die Gewinne und die Fortschritte akkumulieren sich dort, wo sie in der Vergangenheit schon gemacht wurden. Das macht Aufholprozesse schwierig.

Und wie ist die Schweiz positioniert?
Es gibt keinen Grund, den Standort Schweiz beim Thema KI schlechtzureden. Gemäss der aktuellen KOF Innovationsumfrage setzen immerhin knapp 10% der Schweizer Unternehmen mit mehr als fünf Mitarbeitenden Künstliche Intelligenz ein. Bei den grossen Unternehmen betrug -dieser Anteil im Jahr 2020 sogar fast 30%. Damit ist die Schweiz ähnlich weit – vielleicht sogar ein bisschen weiter – als vergleichbare Industrienationen. Auch die Start-up-Kultur ist in der Schweiz gut ausgeprägt, wenn man zum Beispiel an das Tech Cluster in Zug denkt. Der Wissenstransfer zwischen den Hochschulen und den Unternehmen funktioniert ebenfalls gut. Es ist kein Zufall, dass sich Google, Facebook und Microsoft im Grossraum Zürich angesiedelt haben. Aktuell sehen wir, dass das Schweizer Start-up AlpineAI (ebenfalls ein Produkt der guten Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und Privatwirtschaft) mit SwissGPT ein eigenes Sprachmodell auf den Markt bringt. Das könnte für den europäischen Markt mit seinen speziellen Regulierungen interessant werden.

Eine Kurzversion der Studie «Across the Board: AI in Chess Increases Occupational Complexity and Salience of Holistic Identities» finden Sie hier: externe Seitehttps://doi.org/10.5465/AMPROC.2023.29bp

Ansprechpersonen

Dr. Johannes Dahlke
Assistenzprofessor für digitale Innovation und Unternehmertum und KOF Research Fellow

Universität Twente

Dr. Thomas Domjahn
  • LEE F 114
  • +41 44 632 53 44

KOF Bereich Zentrale Dienste
Leonhardstrasse 21
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Schweiz

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