«Das Rentensystem ist eine der grossen Errungenschaften des Sozialstaates»

Michael Graff, KOF-Ökonom

Michael Graff, Leiter des Forschungsbereichs Konjunktur, erläutert die Vor- und Nachteile des Schweizer Rentensystems und erklärt, warum Rentenreformen so schwierig durchzusetzen sind.

Sie haben sich zuletzt in den KOF Analysen mit dem Thema «Die Altersvorsorge in der Schweiz. Entstehung, Funktionsweise und Verteilungseffekte» auseinandergesetzt. Was sind aus Ihrer Sicht die Stärken und Schwächen des Schweizer Rentensystems?
Eine Stärke des Schweizer Rentensystems ist, dass Personen, die eine normale Erwerbsbiografie mit auskömmlichen Einkommen hatten, in der Schweiz auch einen anständigen Ruhestand finanziert bekommen. Darüber hinaus ist vielleicht auch von Vorteil, dass es verschiedene Elemente der Rentenfinanzierung wie das Umlageverfahren, das Kapitaldeckungsverfahren und die Finanzierung durch Steuergelder verbindet. Durch unterschiedliche Gewichtungen bei der Kombination dieser drei Elemente kann man, je nach Präferenzen und politischen Mehrheiten, einerseits den Fokus auf den sozialen Ausgleich legen, wozu nicht zuletzt die Ergänzungsleistungen beitragen, die zumindest im Prinzip allen Personen nach der Erwerbsphase ein akzeptables Mindesteinkommen gewährleisten sollen. Andererseits kann man dafür sorgen, dass das relative Einkommen aus der Erwerbsphase in die Rentenphase übertragen wird: Wer viel eingezahlt hat, bekommt auch viel heraus. Letzteres erreicht man mit einer stärkeren Gewichtung der zweiten und dritten Säule.

Und die Schwäche?
Personen mit gebrochenen Erwerbsbiografien oder unterdurchschnittlichem Einkommen haben im Alter eine Rentenlücke. Zu dieser Gruppe zählen zum Beispiel Frauen, die wegen der Kindererziehung länger beruflich ausgesetzt haben, Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung oder Migranten, die erst im Laufe ihres Erwerbslebens in die Schweiz eingewandert sind. Zweitens zeigt sich immer deutlicher, dass die kapitalgedeckte zweite Säule die Erwartungen bei ihrer Einführung vor vier Jahrzenten nicht erfüllt; die Kapitalmarktrenditen sind nicht verlässlich und dem demografischen Wandel ist sie ebenso ausgesetzt wie das Umlageverfahren: Der Konsum der Pensionierten erfordert immer einen gleich hohen Konsumverzicht der Erwerbstätigen.

«Bei allen Rentensystemen gibt es drei Reformmöglichkeiten, die sich nicht gegenseitig ausschliessen: Entweder man erhöht das Rentenalter oder man vermindert die Rentenauszahlungen oder man erhöht die Beiträge bzw. die Beitragsbasis.»
Michael Graff, KOF-Ökonom

Eine Besonderheit des Schweizer Rentensystems, die es in dieser Form zum Beispiel in Deutschland nicht gibt, ist die dritte Säule. Wie beurteilen Sie diese Komponente?
Die dritte Säule ist, anders als vielfach wahrgenommen, kein Teil der allgemeinen Altersvorsorge, sondern vor allem eine Steuersparmöglichkeit. Die Säule 3a, also freiwillige Einzahlungen auf bis zum Alter 60 gesperrte Konten, bietet als Sparanreiz steuerliche Vorteile, von denen vor allem Besserverdienende profitieren – bei geringen Einkommen können Einzahlungen sogar steuerliche Nachteile bewirken, da die Auszahlungen unabhängig vom Einkommen besteuert werden. Rund ein Drittel der Beitragsberechtigten leistet folgerichtig überhaupt keine Beiträge an die Säule 3a, sofern nicht schon der fehlende finanzielle Spielraum dafür ursächlich ist. Und die Säule 3b ist bloss eine Ermahnung an die Erwerbstätigen, privat vorzusorgen und sich nicht nur auf die erste und zweite Säule zu verlassen, also ein Appell an die «Eigenverantwortung».

Die geburtenstarken Jahrgänge verabschieden sich allmählich in den Ruhestand. Wie robust ist das Schweizer Rentensystem gegenüber dem demografischen Wandel?
In den nächsten zehn Jahren dürften wir noch keine Probleme bekommen. Aber wenn die Abnahme des Anteils der ansässigen Erwerbsbevölkerung nicht durch Steigerung der Arbeitsproduktivität oder Migration ausgeglichen wird und wir auch dann keine grössere Reform machen, könnte das Rentensystem für einige Jahrzehnte in eine Schieflage geraten.

«Wenn die Abnahme des Anteils der ansässigen Erwerbsbevölkerung nicht durch Steigerung der Arbeitsproduktivität oder Migration ausgeglichen wird und wir auch dann keine grössere Reform machen, könnte das Rentensystem für einige Jahrzehnte in eine Schieflage geraten.»
Michael Graff, KOF-Ökonom

Wie lässt sich das Rentensystem reformieren?
Bei allen Rentensystemen gibt es drei Reformmöglichkeiten, die sich nicht gegenseitig ausschliessen: Entweder man erhöht das Rentenalter oder man vermindert die Rentenauszahlungen oder man erhöht die Beiträge bzw. die Beitragsbasis. Das Rentenalter für Frauen wurde ja vor Kurzem für Frauen auf 65 Jahre erhöht. Diese Angleichung an das Rentenalter für Männer konnte nur ganz knapp – und gegen den Willen der Mehrheit der Frauen – durchgesetzt werden. In den nächsten Jahren sehe ich für eine weitere Anhebung des Rentenalters keine Mehrheiten. Eine Senkung der Rentenzahlungen lässt sich politisch wohl ebenso wenig durchsetzen. Vermutlich wird es also auf eine Erhöhung der Beiträge oder des steuerfinanzierten Anteils hinauslaufen.

Wenn Sie sich unabhängig von den politischen Mehrheitsverhältnissen eine grundlegende Rentenreform wünschen könnten, in welche Richtung würde sie gehen?
Im Jahr 1969 hat die Partei der Arbeit (PdA) ein umlage¬finanziertes, existenzsicherndes Rentenniveau für alle vorgeschlagen, bei dem es nicht so stark darauf ankommt, wie viel jemand während seines Berufslebens verdient und ins System eingezahlt hat. Jeder Bürger und jede Bürgerin hätte gemäss dem PdA-Konzept eine Mindestrente von 500 Franken bekommen (damaliges Minimum: 220 Franken), die im Laufe der Zeit im Einklang mit der Inflation und dem Wirtschaftswachstum mitgewachsen wäre. Die Maximalrente wäre auf das Doppelte dieses Betrags gedeckelt worden. Die Initiative wurde 1972 deutlich abgelehnt. Solch ein grundlegender Systemwechsel liesse sich heute nicht mehr ohne erhebliche Anpassungsfristen durchführen, weil jetzt bereits hohe Ansprüche auf Renten aus der kapitalgedeckten zweiten Säule bestehen. In den Sozialwissenschaften sprechen wir in solchen Fällen von Pfadabhängigkeit. Wem der soziale Ausgleich innerhalb der Generationen der Pensionierten mehr am Herzen liegt als die Fortschreibung der Einkommensungleichheit über die Pensionierung hinaus, wird im Entscheid von 1972 eine verpasste Chance sehen.

Wie lässt sich im Rentensystem ohne einen so radikalen Systemwechsel die soziale Komponente stärker betonen?
Im bestehenden System durch einen Ausbau der ersten Säule (AHV) und eine Erhöhung der Ergänzungsleistungen. Weiter könnte man den Fokus der beiden ersten Säulen auf die Löhne aufheben und die Beitragspflicht auf alle Einkommensarten ausdehnen. Langfristig würde ich aber für ein Rentensystem plädieren, das vollständig steuerfinanziert ist. Dann hätte man automatisch durch die Steuerprogression einen sozialen Ausgleich, und die Ansprüche an das System würden im politischen Prozess verhandelt.

In Frankreich gibt es gerade massive Proteste gegen die Erhöhung des Rentenalters auf 64 Jahre. Warum sind Rentenreformen so emotional aufgeladen und so schwierig durchzusetzen?
Das Rentensystem ist eine der grossen Errungenschaften des Sozialstaates und das wissen die Bürgerinnen und Bürger zu schätzen. Die Geschichte der staatlich reglementierten Altersvorsorge ist lang und reicht in einigen Ländern bis in die 1870er Jahre zurück (in der Schweiz bis 1948). Ohne eine staatliche Rente sind die Menschen im Rentenalter auf Almosen oder auf die Unterstützung durch ihre Kinder angewiesen. Während des Erwerbslebens hat man relativ viele Möglichkeiten, durch Weiterbildung oder Aufstockung des Pensums sein Einkommen zu erhöhen. In der Nacherwerbslage besteht diese Chance in der Regel nicht mehr.

Den Beitrag von Michael Graff zum Thema «Die Altersvorsorge in der Schweiz. Entstehung, Funktionsweise und Verteilungseffekte» finden Sie hier: https://www.research-collection.ethz.ch/handle/20.500.11850/604345
 

Ansprechpartner

Prof. Dr. Michael Graff
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
  • LEE G 206
  • +41 44 632 09 89

KOF Konjunkturforschungsstelle
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Thomas Domjahn
  • LEE F 114
  • +41 44 632 53 44

KOF Bereich Zentrale Dienste
Leonhardstrasse 21
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Schweiz

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