Lohnerhöhungen als Antwort auf den Fachkräftemangel

Welche Faktoren beeinflussen die Lohnentwicklung in den verschiedenen Branchen? Die vorliegende Analyse zeigt, dass insbesondere das Ausmass des Fachkräftemangels in einer Branche einen positiven Zusammenhang mit dem von den Unternehmen erwarteten Lohnwachstum aufweist.

Das Einkommen aus unselbständiger Erwerbstätigkeit ist die wichtigste Einkommensquelle der privaten Haushalte. Da ein grosser Teil davon für den Konsum verwendet wird, haben die Löhne auch einen grossen Einfluss auf die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Gleichzeitig sind sie ein wichtiger Kostenfaktor für die Unternehmen. Ein starkes Lohnwachstum erhöht die Produktionskosten und kann die Gewinne der Unternehmen schmälern. Die Lohnentwicklung ist somit von zentraler Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung. Doch welche Faktoren spielen eine Rolle, ob und wie stark sich die Löhne verändern? Warum steigen sie in einigen Branchen stärker als in anderen?

Grosse Branchenunterschiede beim erwarteten Lohnwachstum

Die vorliegende Analyse gibt einen ersten Einblick in diese Fragen auf der Basis einer Unternehmensbefragung, welche die KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich im Oktober 2022 durchgeführt hat. Zum zweiten Mal wurde die vierteljährliche Konjunkturumfrage um eine Frage zu den Lohnerwartungen der Unternehmen ergänzt. Rund 4500 Unternehmen aus verschiedenen Branchen gaben Auskunft darüber, wie sich die Bruttolöhne in ihrem Unternehmen in den nächsten zwölf Monaten voraussichtlich entwickeln werden. Die Antworten der Firmen offenbaren grosse Branchenunterschiede (vgl. Grafik G 1). Während die Versicherungen ein durchschnittliches Lohnwachstum von 1.8% erwarteten, gingen die Unternehmen im Gastgewerbe und der Beherbergung von einem Lohnwachstum von 3.8% aus.

Wie lassen sich diese Unterschiede zwischen den Branchen erklären? Der Schweizer Arbeitsmarkt ist im Herbst 2022 von verschiedenen Entwicklungen betroffen, die einen Einfluss auf das Lohnwachstum haben können: Fachkräftemangel, Inflation, drohende Energieverknappung sowie die Folgen der Corona-Krise und die darauf folgende Erholung. Auch wenn wir uns bewusst sind, dass wir nicht alle möglichen Erklärungsfaktoren für die branchenspezifischen Unterschiede in der erwarteten Lohnentwicklung im Jahr 2023 analysieren können, möchten wir einige davon näher beleuchten.

Erstens: das Ausmass des Arbeitskräftemangels. Branchen, die unter einem starken Arbeitskräftemangel leiden, könnten versuchen, Arbeitskräfte durch Lohnerhöhungen anzuziehen. Die Daten zum Arbeitskräftemangel stammen wie die Lohnerwartungen aus der Konjunkturumfrage der KOF. Dort werden die Unternehmen gefragt, ob der Arbeitskräftemangel ein Produktionshemmnis darstellt. Der entsprechende Indikator misst den Anteil Firmen, die angeben, dass der Arbeitskräftemangel ihre Produktion hemmt.

Zweitens: die Energiekosten am Umsatz eines Unternehmens. Unternehmen mit einem hohen Energiekostenanteil traf der starke Anstieg der Energiepreise besonders hart, was möglicherweise ihren Handlungsspielraum bei der Lohnsetzung einschränkte. Die Angaben zu den Energiekosten am Umsatz stammen aus der Energieumfrage 2015 der KOF.1

Drittens: die aktuelle Geschäftslage sowie erwartete Änderungen der Geschäftslage in den kommenden Monaten. Branchen mit einer besseren (erwarteten) Geschäftslage dürften mehr Spielraum für Lohnerhöhungen haben. Auch diese Daten stammen aus der KOF Konjunkturumfrage. Die Firmen werden gefragt, wie sie die aktuelle Geschäftslage beurteilen («gut», «befriedigend», «schlecht») und wie sich selbige in den kommenden sechs Monaten voraussichtlich entwickeln wird («verbessern», «nicht verändern», «verschlechtern»). Der Indikator zur aktuellen Geschäftslage entspricht der Differenz der Prozentanteile der Antworten «gut» und «schlecht». Der Indikator zur erwarteten Entwicklung der Geschäftslage entspricht der Differenz der Prozentanteile der Antworten «verbessern» und «verschlechtern».

Viertens: die durchschnittliche Gewinnmarge der Unternehmen im Vor-Corona-Jahr 2019 sowie im Corona-Jahr 2020. Auch hier ist anzunehmen, dass Branchen mit einer hohen Marge einen grösseren Spielraum bei der Lohnsetzung haben als Branchen mit geringen Margen. Diese Daten stammen aus der Wertschöpfungsstatistik des Bundesamtes für Statistik (BFS).

Fünftens: der Anteil Firmen einer Branche, die von steigenden (Verkaufs-)Preisen in den kommenden Monaten ausgehen. Selbst bei niedrigen Gewinnmargen können Unternehmen höhere Löhne zahlen, wenn sie in der Lage sind, die Preise entsprechend anzuheben. Auch diese Angaben stammen aus der KOF Konjunkturumfrage. Der Indikator entspricht der Differenz zwischen den Anteilen der Unternehmen, die von steigenden Preisen ausgehen, und denjenigen, die von sinkenden Preisen ausgehen.

Rekrutierungsschwierigkeiten wichtiger Faktor für die Branchenunterschiede

Tabelle T 1 zeigt das Ergebnis einer multivariaten Regression des erwarteten Lohnwachstums in einer Branche (auf NOGA-2-steller Niveau) auf die oben genannten Indikatoren. Die verschiedenen Spalten repräsentieren unterschiedliche Spezifikationen. Die Angaben zur Gewinn-marge und den Energiekosten weisen viele fehlende Werte auf, was die bereits geringe Anzahl der Beobachtungen weiter reduziert. Um die Anzahl Beobachtungen zu erhöhen, wurden diese Variablen aus den Regressionen in den Spalten zwei und drei entfernt. Die übrigen Koeffizienten sind über alle Spezifikationen hinweg robust.

Die Tabelle zeigt, dass in diesen drei Spezifikationen einzig der Anteil Firmen, die angeben, dass der Arbeitskräftemangel ihre Produktion hemmt, einen signifikanten Zusammenhang mit dem prognostizierten Lohnwachstum in einer Branche aufweist. So steigt gemäss der Spezifikation in der ersten Spalte das in einer Branche erwartete Lohnwachstum um 0.18 Prozentpunkte, wenn der Anteil Firmen mit Rekrutierungsschwierigkeiten um 10 Prozentpunkte steigt. Grafik G 2 illustriert diesen Zusammenhang auch visuell. Je grösser der Anteil Firmen mit Rekrutierungsschwierigkeiten in einer Branche, desto stärker das von ihnen erwartete Lohnwachstum in den kommenden zwölf Monaten. Dies ist nachvollziehbar. In einer Marktwirtschaft gibt es für ein Knappheitsproblem wie den Arbeitskräftemangel eine einfache Lösung: Die Unternehmen müssen attraktiver werden, damit mehr Menschen (bei ihnen) arbeiten wollen. Dies kann über bessere Arbeitsbedingungen und/oder höhere Löhne geschehen.

Mangelnder Spielraum bei der Preissetzung mögliches Hindernis für Lohnwachstum

Spielen die anderen Faktoren keine Rolle? Diese Schlussfolgerung wäre voreilig. Erstens ist die Anzahl Beobachtungen gering, was die Belastbarkeit der Schlussfolgerungen einschränkt. Zweitens ist es durchaus möglich, dass einzelne Faktoren für gewisse Branchen wichtig sind, auch wenn in der obigen Spezifikation kein genereller statistischer Zusammenhang ersichtlich ist. Dies illustriert ein Vergleich des Gesundheits- und Sozialwesens mit der Gastronomie.

Die drei Branchen stellen auf Grafik G 2 «Ausreisser» dar: Sowohl im Gesundheits- als auch im Sozialwesen erwarten die Unternehmen trotz ausgeprägten Arbeitskräftemangels ein schwaches Lohnwachstum. Die Gastronomie bestätigt zwar den Zusammenhang zwischen Arbeitskräftemangel und Lohnwachstum, aber das Ausmass des Letzteren ist aussergewöhnlich. Was unterscheidet das Gastgewerbe vom Gesundheits- und Sozialwesen?

Die Gastrobetriebe erlebten während der Corona-Krise heftige Verluste, weisen eher geringe Margen und vergleichsweise hohe Energiekosten auf. Dies spricht nicht für grosse Sprünge bei den Löhnen, auch wenn sich die Geschäftslage im Herbst 2022 erholt hatte. Doch die Gastrounternehmen scheinen Spielraum bei der Preissetzung zu haben. Die Umfragedaten zeigen, dass in der Gastronomie ein Grossteil der Unternehmen mit steigenden Verkaufspreisen rechnet. Zwar dürften diese vor allem eine Folge der gestiegenen Kosten für Energie- und Nahrungsmittel sein, doch Spielraum bei der Preissetzung hilft, um auch allfällige Lohnerhöhungen mitzufinanzieren.

Anders sieht die Situation im Gesundheits- und Sozialwesen aus. Dort erwartet nur ein kleiner Anteil der Akteure eine höhere Vergütung ihrer Leistungen. Entsprechend begrenzt ist der Spielraum für Lohnerhöhungen. Problematisch ist, dass dies den bereits ausgeprägten Fachkräftemangel weiter verstärken dürfte. Auch andere Branchen mit hohem erwartetem Lohnwachstum, zum Beispiel Unternehmen in der Herstellung von Uhren und Datenverarbeitungsgeräten, gehen mehrheitlich davon aus, dass sie ihre Preise erhöhen können.

Auffallend ist, dass in vielen Branchen, in denen ein hohes Lohnwachstum erwartet wird, kollektive Lohnverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden mit für schweizerische Verhältnisse hohen Lohnabschlüssen stattgefunden haben. So einigten sich die Vertragsparteien des Gesamtarbeitsvertrags (GAV) im Gastgewerbe Anfang Juni auf einen vollen Teuerungsausgleich und zusätzliche Mindestlohnerhöhungen von bis zu 40 Franken pro Monat, was einer Lohnerhöhung von 3.5% bis 3.9% entspricht. In der Uhrenindustrie wurden im Oktober Lohnerhöhungen von durchschnittlich 3.5% vereinbart und im Reinigungsgewerbe der Deutschschweiz einigte man sich im September auf Effektivlohnerhöhungen von 3%.

Auch im Baugewerbe konnten nach langen Verhandlungen Ende November substanzielle Lohnerhöhungen angekündigt werden. Diese Branchen zeichnen sich entweder durch einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad oder durch einen allgemeinverbindlich erklärten GAV aus. Letzteres bedeutet, dass sich alle Unternehmen der Branche an die Bestimmungen des GAV halten müssen, auch wenn sie nicht dem vertragsschliessenden Arbeitgeberverband angehören. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Lohnerhöhungen akzeptiert werden, da nicht befürchtet werden muss, gegenüber inländischen Konkurrenten, die keine Lohnerhöhungen zahlen, ins Hintertreffen zu geraten.

Fazit

Die Analyse zeigt, dass das Ausmass des Fachkräftemangels in einer Branche einen positiven Zusammenhang mit dem von den Unternehmen erwarteten Lohnwachstum aufweist. Das ist nachvollziehbar: Firmen, die keine Fachkräfte finden, versuchen attraktiver zu werden, indem sie die Löhne erhöhen. Zu den Ausnahmen zählen das Gesundheits- und Sozialwesen. Dort erwarten die Firmen trotz ausgeprägten Fachkräftemangels kein überdurchschnittliches Lohnwachstum. Dies dürfte unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass in diesen Bereichen eine höhere Vergütung der Leistungen schwer durchsetzbar ist.

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1 Neuere Zahlen sind nicht verfügbar. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich die Kostenstruktur auf Branchenebene in den vergangenen acht Jahren nicht allzu stark verändert hat.  

Der vorliegende Artikel ist eine gekürzte Version von: Kopp, D. (2023). Die Lohnrunde 2023 im Zeichen des Fachkräftemangels. In: Volkswirtschaftsdirektion des Kanton Zürich, Amt für Wirtschaft und Arbeit, Arbeitsbedingungen (Hrsg.). Lohnbuch 2023, Orell Füssli, S. 44-51.

Ansprechpartner

Dr. Daniel Kopp
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
  • LEE G 218
  • +41 44 633 87 15

KOF Konjunkturforschungsstelle
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

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