Angestellte des Tieflohnsektors

Weshalb entstand in der Schweiz, anders als in Deutschland, kein grosser Tieflohnsektor? Eine Auslegeordnung

In der Schweiz konnten die tiefen Löhne erstaunlich gut mit den mittleren Löhnen mithalten, dies im Unterschied zu Deutschland. Die bisherige Forschung kann die unterschiedliche Entwicklung in den zwei Ländern nicht abschliessend erklären. KOF-Ökonomin Kristina Schüpbach diskutiert in diesem Artikel verschiedene Thesen zu diesem Thema. Eine mögliche Erklärung ist die im Gegensatz zu Deutschland gestiegene Abdeckung durch Gesamtarbeitsverträge.

Obwohl die Lohnungleichheit in der Schweiz heute deutlich höher ist als noch Mitte der 1990er Jahre, hat sich die Grösse des Tieflohnsektors kaum verändert. Gemessen am gesamten Stellenangebot der Unternehmen, lag der Anteil Tieflohnstellen in den letzten dreissig Jahren immer zwischen 10% und 11,5%. Die Lohnungleichheit nahm Ende der 1990er Jahre und bis zur Finanzkrise vor allem gegen oben hin zu. Die tiefen Löhne (10. Perzentilgrenze, 10% der Arbeitnehmenden verdienen weniger) konnten hingegen immer mit den mittleren Löhnen (Medianlohn, 50% verdienen weniger) mithalten (siehe Grafik G 1).

Die relative Stabilität der unteren Löhne ist bemerkenswert. In Deutschland sind die tiefen Löhne Anfang der Nullerjahre real um über 20% gesunken. Gleichzeitig ist der Anteil Arbeitnehmende mit einem Tieflohn um fast die Hälfte angestiegen (Grabka and Schröder 2019). Als Tieflohn gilt ein Stundenlohn, der tiefer ist als zwei Drittel des Bruttomedianlohnes. Im Gegensatz zu Deutschland entstand in der Schweiz kein grosser Tieflohnsektor, das Verhältnis von den tiefen zu den mittleren Löhnen blieb erstaunlich konstant. Interessant ist auch, dass die Erwerbsbeteiligung in der Schweiz gleichzeitig unverändert auf hohem Niveau blieb. Viele Ökonominnen und Ökonomen argumentieren, dass bei tieferer Arbeitslosigkeit die Lohnungleichheit zunimmt. Denn wenn die Arbeitsmarktbeteiligung von eher tief qualifizierten Personen steigt, ist es plausibel, dass dann der Tieflohnsektor wächst. Gemäss dieser Logik hat Deutschland eine höhere (Tieflohn-)Beschäftigung und tiefere Arbeitslosigkeit mit grösserer Lohnungleichheit erkauft. Die Erfahrung der Schweiz deutet darauf hin, dass tiefe Arbeitslosigkeit nicht zwangsläufig mit hoher Lohnungleichheit und einem hohen Tieflohnanteil einhergehen muss. Im Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern liegt die Schweiz bezüglich Tieflöhnen im unteren Mittelfeld (siehe Grafik G 2). Die nordischen Länder, aber auch Frankreich, Italien und Portugal, verzeichnen einen geringeren Anteil Tieflohnstellen. Deutschland, Grossbritannien und weitere mitteleuropäische Länder haben hingegen teilweise deutlich grössere Tieflohnsektoren.

Die üblichen Erklärungen dürften die unterschiedliche Entwicklung nicht erklären

Weshalb entstand in gewissen Ländern wie Deutschland und Grossbritannien ein grosser Tieflohnsektor, während in der Schweiz und in anderen westeuropäischen Ländern der Anteil Tieflohnstellen vergleichsweise tief blieb? In der ökonomischen Literatur wurden verschiedene Theorien zur Erklärung der in vielen Ländern zunehmenden Lohnungleichheit untersucht. Die prominenteste Erklärung ist, dass der technologische Wandel, genauer die Digitalisierung und Automatisierung, die Nachfrage der Arbeitgeber nach hoch qualifizierten Arbeitskräften erhöht hat. Weil die Zahl der qualifizierten Arbeitskräfte nicht gleich schnell gewachsen ist, stiegen die Löhne von Personal mit Hochschulabschluss im Vergleich zu Personen mit mittlerem Ausbildungsniveau. In der Schweiz sind dies Personen mit Berufslehre oder Matura. Die Automatisierung von Routinetätigkeiten habe weiter dazu geführt, dass es für einige Berufe mit mittlerem Ausbildungsniveau – etwa in der Produktion oder in der Verwaltung – weniger Arbeitskräfte braucht (Antonczyk, DeLeire, and Fitzenberger 2018; Acemoglu and Autor 2011).

Eine Untersuchung für die Schweiz beschäftigte sich mit dieser These. In Regionen, deren Branchen stärker auf Routinetätigkeiten ausgerichtet waren als in anderen Regionen, wurde mehr in die Automatisierung investiert, die Zuwanderung und Beschäftigung von hoch qualifizierten Arbeitskräften stieg stärker an und der Lohnunterschied zwischen hoch und mittel qualifizierten Arbeitskräften nahm zu. Für das stärkere Wachstum der hohen Löhne scheint der technologische Wandel folglich eine relevante Rolle zu spielen. Im Gegensatz dazu führte er gemäss der Studie aber weder zur Zunahme der Beschäftigung von tief qualifizierten Arbeitskräften noch zur Zunahme der Lohnungleichheit in der unteren Hälfte der Verteilung (Beerli, Indergand, and Kunz 2023).

Unter dem Stichwort Globalisierung wurden verschiedene weitere Faktoren wie der zunehmende globale Wettbewerb, die Auslagerung der Produktion in Niedriglohnländer, wachsende Produktivitätsunterschiede zwischen internationalen und lokalen Firmen und die Beschleunigung des technologischen Wandels aufgrund der stärkeren globalen Vernetzung untersucht. Alle diese Faktoren vergrösserten die Ungleichheit tendenziell, wenn auch Uneinigkeit über die Gewichtung der Relevanz der einzelnen Punkte besteht (siehe OECD 2011 für eine Übersicht). Die Unterschiede in der Entwicklung zwischen westeuropäischen Ländern können indessen kaum nur mit dem technologischen Wandel oder der Globalisierung erklärt werden. Es gibt keine Evidenz, die nahelegen würde, dass die Schweiz von den beiden Faktoren weniger stark betroffen war als andere Länder. A priori ist dies auch nicht zu erwarten.

Flankierende Massnahmen führten zu steigendem GAV-Abdeckungsgrad

Institutionelle Faktoren könnten ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Ein solcher Faktor ist die Ausgestaltung und die Entwicklung der Arbeitsmarktinstitutionen, wie etwa kollektive Lohnverhandlungen oder staatliche Mindestlöhne. In der Schweiz ist die Abdeckung durch Gesamtarbeitsverträge (der Anteil der Beschäftigten, die einem Gesamtarbeitsvertrag [GAV] bzw. einem Tarifvertrag unterstehen) zwischen 2001 und 2012 von 38 auf 49 Prozentpunkte gestiegen (Staatssekretariat für Wirtschaft [SECO] 2013). In Deutschland und Grossbritannien sank hingegen der GAV-Abdeckungsgrad deutlich, während er in den meisten anderen westeuropäischen Ländern stabil blieb (OECD 2019).

Eine mögliche Rolle für die Entwicklung in der Schweiz spielten die 2004 eingeführten flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit mit der EU (FlaM). Diese Massnahmen sollten dem befürchteten Lohndruck entgegenwirken und verhindern, dass ein Teil der Arbeitgeber die Zuwanderung ausnutzt und Lohndumping betreibt. Konkret wurden als Teil der FlaM die Hürden gesenkt, um einen zwischen Gewerkschaften und Branchenverband verhandelten GAV für alle Firmen in der betreffenden Branche verbindlich zu erklären. Der Abdeckungsgrad durch solche allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträge verdoppelte sich gemäss dem Staatssekretariat für Wirtschaft denn auch von 12% auf 24% von 2001 bis 2012. Zudem konnten sich die Gewerkschaften in Dienstleistungsbranchen mit traditionell tiefen Löhnen etablieren und neue GAV abschliessen, so beispielsweise in der Reinigungsbranche oder bei den Sicherheitsdienstleistungen.

Verhinderten kollektive Lohnverhandlungen ein Absinken der tiefen Löhne?

Verschiedene Studien zu anderen Ländern zeigen, dass kollektive Lohnverhandlungen die Lohnungleichheit verringern, und zwar sowohl durch eine Erhöhung der tiefen Löhne als auch durch eine Reduktion der hohen Löhne (Lucifora, McKnight, and Salverda 2005; OECD 2019). Der dämpfende Effekt von kollektiven Lohnverhandlungen auf die Lohnungleichheit ist dabei umso grösser, je mehr Branchen und Berufe sich an die Vereinbarungen halten müssen. Eine Koordination der Lohnforderungen und Verhandlungen auf nationaler Ebene wirken zudem der Entstehung grosser Branchenunterschiede entgegen.

Für Deutschland kommen mehrere Studien zum Schluss, dass die Verlagerung der Lohnverhandlungen von der Branchen- auf die Firmenebene und die generelle Abnahme der Abdeckung mit Tarifverträgen das Absinken der tiefen Löhne erklären (siehe beispielsweise Antonczyk, DeLeire, and Fitzenberger 2018; Card, Heining, and Kline 2013). Die Einführung des nationalen Mindestlohnes in Deutschland im Jahr 2015 hat umgekehrt die tiefsten Löhne angehoben und damit die Lohnungleichheit wieder leicht verringert (Grabka and Schröder 2019).

Für die Schweiz wurde der Effekt von Gesamtarbeitsverträgen auf die Lohnungleichheit bisher hingegen nicht untersucht. Ein Grund dafür ist möglicherweise, dass eine systematische Erfassung der wichtigsten Vertragsmerkmale, insbesondere der Höhe der Mindestlöhne, bisher fehlt. Die Erkenntnisse aus anderen Ländern legen nahe, dass die Gesamtarbeitsverträge in den letzten zwanzig Jahren einen Beitrag zur Stabilität der Lohnungleichheit im unteren Bereich leisteten.

Neben den Gesamtarbeitsverträgen könnten weitere Faktoren für den vergleichsweise kleinen Tieflohnsektor in der Schweiz relevant sein. Die Nähe des Berufsbildungssystems zum Arbeitsmarkt und die Weiterbildungsmöglichkeiten trugen eventuell dazu bei, dass auch Personen ohne Universitätsabschluss mit dem technologischen Wandel mithalten konnten. Das wäre dann ein Grund, warum sich gewisse Technologien zwar in der Schweiz ähnlich wie in anderen Ländern verbreiteten, aber nicht die gleiche Wirkung entfalteten. Auch die im Vergleich mit anderen Ländern grosszügige Arbeitslosenversicherung spielte möglicherweise eine Rolle. Bei einer guten sozialen Absicherung stehen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weniger unter Druck, jede Stelle und jeden Lohn zu akzeptieren. Höhere Personalkosten können aber auch zu einer geringeren Nachfrage auf Unternehmensseite führen. Die Evidenz zum Effekt der Höhe der Arbeitslosenentschädigung auf die Startlöhne ist jedoch insgesamt gemischt (siehe u.a. Jäger et al. 2020; Dahl and Knepper 2022). Denkbar ist auch, dass die öffentliche Diskussion rund um die Initiative für einen nationalen Mindestlohn – obwohl 2014 an der Urne gescheitert – eine Art Untergrenze dafür etablierte, welcher Lohn gesellschaftlich gerade noch als akzeptabel gilt.

Es besteht Forschungsbedarf

Die unterschiedliche Entwicklung des Tieflohnsektors in der Schweiz und in Deutschland ist erklärungsbedürftig. Die bisherige Forschung liefert zwar einige Erklärungsansätze, doch insgesamt bleiben viele Fragen offen. Insbesondere in Bezug auf die Auswirkungen der Gesamtarbeitsverträge auf (Tief-)Löhne und Beschäftigung besteht in der Schweiz eine Forschungslücke.

Der vorliegende Artikel basiert auf: Schüpbach, Kristina (2023): Wie sich die Schere öffnet und was bei den tiefsten Löhnen übrigbleibt, in: Caritas Schweiz (Hg.), Sozialalmanach 2023: Ungleichheit in der Schweiz, Caritas-Verlag, Luzern, 85–108.

Kontaktperson

Kristina Schüpbach
  • LEE G 207
  • +41 44 632 04 45

KOF FB Arbeitsmarktökonomie
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Literatur

Acemoglu, Daron, and David Autor (2011): externe SeiteSkills, Tasks and Technologies: Implications for Employment and Earnings. In Handbook of Labor Economics, 4:1043–1171. Elsevier.

Antonczyk, Dirk, Thomas DeLeire, and Bernd Fitzenberger (2018): externe SeitePolarization and Rising Wage Inequality: Comparing the U.S. and Germany. Econometrics 6 (2): 20.

Beerli, Andreas, Ronald Indergand, and Johannes S. Kunz (2023): externe SeiteThe Supply of Foreign Talent: How Skill-Biased Technology Drives the Location Choice and Skills of New Immigrants. Journal of Population Economics 36 (2): 681–718.  

Card, David, Jörg Heining, and Patrick Kline (2013): externe SeiteWorkplace Heterogeneity and the Rise of West German Wage Inequality. The Quarterly Journal of Economics 128 (3): 967–1015.  

Dahl, Gordon and Matthew Knepper (2022): externe SeiteUnemployment Insurance, Starting Salaries, and Jobs. NBER Working Paper No. 30152.

Grabka, Markus M., and Carsten Schröder (2019): externe SeiteThe Low-Wage Sector in Germany Is Larger than Previously Assumed. DIW Weekly Report 14 (April): 118–25.  

Jäger, Simon, Benjamin Schoefer, Samuel Young, and Josef Zweimüller (2020): externe SeiteWages and the Value of Nonemployment. The Quarterly Journal of Economics 135 (4): 1905–63.  

Lucifora, Claudio, Abigail McKnight, and Wiemer Salverda (2005): externe SeiteLow-Wage Employment in Europe: A Review of the Evidence. Socio-Economic Review 3 (2): 259–92.  

OECD. 2011. externe SeiteDivided We Stand: Why Inequality Keeps Rising. Paris: OECD Publishing.  

OECD. 2019. externe SeiteNegotiating Our Way Up. Paris: OECD Publishing.  

Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) (2013): externe SeiteTieflöhne in der Schweiz und Alternativen zur Mindestlohn-Initiative im Bereich der Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen und für den Erlass von Normalarbeitsverträgen. Bern.  

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