«In der Ökonomie geht es um die Frage nach dem guten Leben»

Michael Graff, KOF-Ökonom

Michael Graff, Leiter des Forschungsbereichs Konjunktur, erklärt, warum Ungleichheit ein zentrales Thema in den Wirtschaftswissenschaften sein sollte und warum Umverteilung und Effizienz nicht zwingend Gegensätze sein müssen.

Aus der Sicht mancher Beobachter geht es in der Ökonomie in erster Linie um Effizienz, während Themen wie Ungleichheit und Umverteilung besser in den Politikwissenschaften oder der politischen Philosophie aufgehoben sind. Stimmt diese These?
Das ist eine verkürzte Sicht der Dinge. Ökonomen wie Adam Smith, John Stuart Mill oder vor allem natürlich Karl Marx haben sich schon vor langer Zeit mit gesellschaftlicher Ungleichheit auseinandergesetzt. Auch die Stockholmer Schule, zu der Nobelpreisträger wie Gunnar Myrdal oder Bertil Ohlin zählten, hat fundamentale Beiträge zur Begründung der Neoklassik geleistet, sich dabei aber als sozialwissenschaftliche Forschungsrichtung verstanden. Für sie hatte die Ökonomie auch eine ethische Komponente. Mit dem Dominantwerden der neoklassischen Wirtschaftstheorie vor gut 100 Jahren und der zunehmenden Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften ist dieser Ansatz etwas in den Hintergrund geraten. In den Wirtschaftswissenschaften hat sich mehr und mehr das Paradigma durchgesetzt, dass, sofern Märkte funktionieren und es kein Marktversagen gibt, die Marktergebnisse immer effizient sind. Die daraus abgeleitete Ideologie, die oft als neo-liberal bezeichnet wird, indem die Rolle von Marktversagen und Externalitäten kleingeredet wurde, wurde dann in den 80er-Jahren von Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Grossbritannien in die politische Praxis umgesetzt. Ihre Wirtschaftspolitik, oft als Reaganomics und Thatcherism bezeichnet, setzte auf einen schlanken Staat, niedrige Steuern und wenig Umverteilung. Man ging davon aus, dass alle davon etwas abbekommen, wenn die Wirtschaft wächst, selbst wenn zunächst vor allem die Bessergestellten profitieren. Doch diese Hoffnung erwies sich als Illusion. Die Reichen wurden immer reicher und die Reallöhne der ärmeren Schichten stagnierten. Spätestens mit der Finanzkrise, die ihren Ausgangspunkt in den USA, also im Herzen des Finanzkapitalismus hatte, ist diese Ideologie ins Wanken geraten. Als Reaktion haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten immer mehr Ökonomen wieder mit dem Thema Ungleichheit und Umverteilung auseinandergesetzt. Als prominentestes Beispiel können die Arbeiten des französischen Ökonomen Thomas Piketty («Das Kapital im 21. Jahrhundert») genannt werden.

Stehen denn Effizienz und Gleichheit immer im Widerspruch?
Nicht unbedingt. Das ist ein konstruierter Gegensatz. Man kann sowohl über Effizienz nachdenken als auch über Gleichheit. Im marktliberalen Paradigma, wie es zu Zeiten von Reagan und Thatcher vorherrschend war, gibt es nur Individuen, die egoistisch ihren Nutzen maximieren. Wenn man die Anreize durch Umverteilung verwässert, wird demnach weniger gearbeitet und erwirtschaftet, was allen schadet. Sobald man dieses theoretische Korsett ablegt und ein gutes Leben für alle als Ziel des Wirtschaftens ansieht, sind Effizienz und Gleichheit nicht mehr Gegensätze.

Ist die Analyse von Ungleichheit innerhalb der Ökonomie ein Randthema oder ein Kernthema?
Die Analyse von Ungleichheit hat aus meiner Sicht einen zentralen Platz in der Ökonomie. In den Wirtschaftswissenschaften geht es nicht nur um das Anwenden von mathematischen Modellen und um das Maximieren unter Nebenbedingungen, sondern im Kern um die Frage «Was kann die Wirtschaft zu einem guten Leben beitragen?».

Können Sie das mit Bezug auf die Analyse von Ungleichheit an einem Beispiel verdeutlichen?
Ungleichheit wird oft mit Verdienst gerechtfertigt, nach dem Motto «Denjenigen, denen es besser geht, darf es besser gehen, weil sie es sich durch Leistung verdient haben». Doch wie viel ist verdient? Wenn ein Spitzenmanager 10 Millionen Franken im Jahr verdient, ein gewöhnlicher Angestellter aber nur 50 000 Franken, hat das dann noch mit Verdienst oder Produktivität zu tun? Die äusseren Umstände machen mehr aus, als wir denken. Wer in einem Akademikerhaushalt aufwächst, hat grössere Karrierechancen als jemand, der in einem abgelegenen Alpendorf aufwächst – von Menschen, die zum Beispiel in Afrika südlich der Sahara geboren werden, ganz zu schweigen. Solche Zusammenhänge müssen wir als Ökonomen offenlegen und hinterfragen.

«Ökonomen wie Adam Smith, John Stuart Mill oder vor allem natürlich Karl Marx haben sich schon vor langer Zeit mit gesellschaftlicher Ungleichheit auseinandergesetzt.»
Michael Graff, KOF-Ökonom

Auf welche Form der Ungleichheit sollten Ökonomen und Ökonominnen schauen?
Ungleichheit gibt es in vielen Dimensionen. Wir Ökonomen schauen vor allem auf die Grössen Einkommen und Vermögen. Einkommen ist eine Stromgrösse. Vermögen ist eine Bestandsgrösse. Diese beiden Grössen hängen miteinander zusammen, sofern sich Vermögen als Strom von Einkommen bildet, nach dem Motto «Wer hart arbeitet und sparsam ist, häuft Vermögen an». Dies ist allerdings nicht der Fall, wenn Vermögen durch Schenkung, Erbschaft oder Zufallsgewinne an der Börse entsteht.

Mit welchen Indikatoren lässt sich Ungleichheit messen?
Ein weitverbreitetes und praktikables Mass ist der sogenannte Gini-Koeffizient. Er beträgt null für vollkommene Gleichverteilung und eins für vollkommene Ungleichverteilung, das heisst, wenn nur eine Person das gesamte Einkommen oder das ganze Vermögen hat. Man kann sich auch sogenannte Perzentile anschauen, das heisst, die Frage stellen, wie viel beispielsweise die oberen fünf oder zehn Prozent einer Gesellschaft im Vergleich zu den unteren Perzentilen besitzen. Doch Perzentile lassen sich leicht für politische Botschaften manipulieren, indem man die Perzentile geschickt auswählt, ohne Daten fälschen zu müssen. Man kann aus der gleichen Verteilung ganz verschiedene Aussagen ableiten. Im Allgemeinen sind Ungleichheitsmasse, welche die gesamte Verteilung reflektieren, robuster als solche, die nur auf Teilen der Verteilung beruhen.

Wie viel Ungleichheit ist in einer Gesellschaft tolerabel?
Anthropologen gehen davon aus, dass in der Steinzeit materielle Gleichheit herrschte. Es gab Arbeitsteilung, aber keinen Privatbesitz an Produktionsgütern. Das kam erst mit der Sesshaftwerdung, mit Boden als Privatbesitz. Völlige Gleichheit wird es nie geben, denn viele wichtige Faktoren im Leben wie Partnerschaft oder Gesundheit sind vom Zufall abhängig. Ungleichheit wird aber dysfunktional, wenn sie in einer Gesellschaft nicht mehr akzeptiert wird. Dann kommt es entweder zum gewaltsamen Umsturz oder zu individueller Gewalt. Letzteres ist in vielen Ländern in Lateinamerika mit hoher Ungleichheit wie zum Beispiel Brasilien oder Mexiko zu beobachten. Die Benachteiligten sorgen durch Raub oder Entführungen gewaltsam für Umverteilung von oben nach unten. Die Reichen müssen sich abschotten und immer mehr Geld in ihren Schutz investieren. Das ist – abgesehen von der ethischen Dimension – volkswirtschaftlich natürlich völlig ineffizient.

Wie ungleich ist die Schweiz?
Die Schweiz ist in Bezug auf Ungleichheit, wenn man sie mit vergleichbaren Ländern wie Deutschland, Österreich in Relation setzt, etwa im Mittelfeld. In dieser Dimension gibt es also keinen Grund für Alarmismus. Die Vermögensungleichheit ist dagegen in der Schweiz stärker ausgeprägt als in den meisten anderen Ländern. Wirtschaftliche Dynastiebildung durch Erbschaften, befördert durch die praktisch völlige Abschaffung der Erbschaftssteuer für nahe Verwandte, ist wesentlich. Hinzu kommt, dass es keine Kapitalgewinnsteuer gibt und wirklich Reiche durch Umzug in eine Tiefsteuergemeinde ihre Steuerbelastung tief halten können.

«Wer in einem Akademikerhaushalt aufwächst, hat grössere Karrierechancen als jemand, der in einem abgelegenen Alpendorf aufwächst.»
Michael Graff, KOF-Ökonom

Wie lässt sich Ungleichheit am besten bekämpfen?
Eine Erbschaftssteuer ist aus ökonomischer Sicht die effizienteste Steuer, da sie den Arbeitsanreiz kaum reduziert. Sie sollte einen Freibetrag etwa in Höhe des Marktwerts eines Familienhäuschens vorsehen, aber darüber hinaus den Grossteil wegsteuern. Grosse Vermögen entstehen ja nicht im Alleingang, sondern in einem gesamtgesellschaftlichen Zusammenspiel. Warum soll das den Erben zustehen und nicht an die Allgemeinheit zurückfallen? Auch eine progressive Einkommenssteuer ist sinnvoll. Leider wird dies in der Schweiz oft dadurch unterlaufen, dass Besserverdienende in Kantone mit niedrigeren Steuern ziehen können. In Niedrigsteuerkantonen zahlen Besserverdienende oft weniger Steuern als Normalverdiener in Normalsteuerkantonen. Man müsste also dem Innerschweizer Steuerwettbewerb einen Riegel vorschieben. In einer idealen Welt wäre es natürlich wünschenswert, wenn bereits die Primäreinkommen, vor allem durch einen chancengleichen Zugang zu Bildung, gleicher verteilt werden, bevor man Korrekturmassnahmen via Steuersystem ins Auge fasst.

Wäre es auch eine Option, Menschen mit einem niedrigen Einkommen über den Aktienmarkt stärker an den Unternehmensgewinnen zu beteiligen? Schliesslich sind Super-Reiche wie Elon Musk, Bill Gates oder Warren Buffett auch dank ihrer Aktienbeteiligungen reich geworden.
Das Problem ist, dass die meisten Niedrigverdiener gar kein Vermögen haben, das sie am Aktienmarkt investieren könnten. Zudem muss man vorsichtig sein, wenn man in der Nähe des Existenzminimums lebt. Wer mehr Geld hat, kann auch mit mehr Risiko am Aktienmarkt investieren. Wer wenig Geld hat und zu einem unglücklichen Zeitpunkt auf sein Kapital angewiesen ist, kann eine Krise an den Finanzmärkten nicht einfach aussitzen. Ich weiss auch nicht, ob jeder Schweizer zum Finanzmarktexperten werden sollte oder ob man damit den Menschen eine Last auflädt, die nicht unbedingt zum guten Leben gehören. Ich lese zum Beispiel in meiner Freizeit lieber einen guten Roman als die Börsenkurse oder Abhandlungen über Risiko-Rendite-Profile.

Kontaktpersonen

Prof. Dr. Michael Graff
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
  • LEE G 206
  • +41 44 632 09 89

KOF Konjunkturforschungsstelle
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Thomas Domjahn
  • LEE F 114
  • +41 44 632 53 44

KOF Bereich Zentrale Dienste
Leonhardstrasse 21
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Schweiz

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