Wann Katastrophenhilfe parteitaktisch eingesetzt wird

Bei der Vergabe staatlicher Mittel handeln Politikerinnen und Politiker oft parteiisch. Beziffern liess sich politische Bevorzugung aus strategischen Gründen bisher aber allenfalls im Durchschnitt. Eine aktuelle Analyse zur Vergabe staatlicher Katastrophenhilfe nach Hurrikans in den USA zeigt nun, dass sich das Ausmass politischer Bevorzugung zwischen verschiedenen Entscheidungssituationen stark unterscheidet. Am ausgeprägtesten ist die Problematik bei mittelstarken Sturmereignissen.

Tropische Wirbelstürme wie Hurrikans gehören zu den zerstörerischsten Naturkatastrophen weltweit. Auch die diesjährige US-amerikanische Hurrikan-Saison war verheerend. Allein Hurrikan Ian kostete nach neusten Schätzungen mindestens 109 Menschen das Leben und verursachte einen geschätzten Schaden in Höhe von 70 Milliarden US-Dollar (Freedman, 2022). In solchen Katastrophensituationen ist schnelle staatliche Katastrophenhilfe gefragt, um Folgeschäden abzumildern und für einen Wiederaufbau in den betroffenen Regionen zu sorgen. Politischen Entscheidungsträgern kommt in diesem Umfeld eine zentrale Bedeutung zu.

Staatliche Allokationsentscheidungen gehören zu den fundamentalen Aufgaben von Regierungspolitikern. Oft haben sie einen direkten Einfluss auf die Zuteilung staatlicher Gelder, beispielsweise wenn es um die Auswahl eines neuen Forschungsstandorts für Hochtechnologie, den Ausbau öffentlicher Infrastruktur oder eben die Freigabe staatlicher Hilfsgelder im Katastrophenfall geht. Dass Politiker bei Allokationsentscheidungen nicht nur das Allgemeinwohl, sondern auch eigene polit-strategische Überlegungen in Betracht ziehen, wurde in zahlreichen Studien nachgewiesen (siehe bspw. Berry et al., 2010; Gehring & Schneider, 2018; Larcinese et al., 2006). Zahlreiche Studien zu politischer Einflussnahme beantworten die Frage, ob es im Durchschnitt politisch motivierte Verzerrungen bei Allokationsentscheidungen gibt, eindeutig mit ja. Was bislang nicht bekannt war: Welche Entscheidungssituationen sind wie stark von diesem Phänomen betroffen? Lassen sich Politiker stets in moderatem Mass von politischem Kalkül leiten? Oder ist politische Bevorzugung in gewissen Situationen ein massives Problem, während die Entscheidungsträger bei anderen Entscheidungen vor politisch motivierten Allokationen zurückschrecken?

Die Ergebnisse einer neuen Studie von Stephan A. Schneider (KOF – ETH Zürich) und Sven Kunze (ZHAW) zur Vergabe von Katastrophenhilfe nach Hurrikans in den Vereinigten Staaten legen nahe, dass letztere Sicht zutrifft: Das Ausmass politischer Bevorzugung variiert beträchtlich. Für sehr starke und schwache Hurrikans lässt sich statistisch keine politische Verzerrung der Vergabe feststellen. Dafür bevorzugen US-Präsidenten bei der Freigabe von Hilfsgeldern nach mittelstarken Stürmen jene Regionen, die von ihren Parteifreunden regiert werden – und das besonders deutlich: Der gemessene politische «Alignment Bias» entspricht in diesen Situationen nahezu einer Verdopplung der Wahrscheinlichkeit, staatliche Hilfszusagen zu erhalten.

Hurrikans als natürliches Experiment zur Bestimmung des politischen Einflusses

Die Innovation der vorliegenden Studie liegt in der Erstellung präziser räumlicher Hurrikan-Daten und deren Kombination mit politischen Daten. Zudem bietet der US-amerikanische Vergabemechanismus bundesstaatlicher Hilfe einen klaren Rahmen, um eine mögliche politische Bevorzugung zu identifizieren.

Wenn ein Bundesstaat bei den Folgen einer Naturkatastrophe Hilfen benötigt, kann der Gouverneur einen Antrag auf bundesstaatliche Unterstützung stellen. Die Entscheidungsgewalt über die Freigabe von bundesstaatlichen Hilfsgeldern nach Naturkatastrophen liegt dabei allein beim Präsidenten. Er kann eine Verordnung (sog. «Disaster Declaration») für betroffene Counties erlassen, wodurch diese Zugang zu Hilfsgeldzahlungen der Federal Emergency Management Agency (FEMA) bekommen. Die Höhe der Auszahlungen bestimmt die FEMA, aber die Entscheidung des Präsidenten bestimmt, ob überhaupt Geld ausgezahlt wird.

Jedes Jahr werden die USA mehrfach von Hurrikans getroffen. Deren Zugbahnen sind unberechenbar (siehe Grafik G 2) und ihr lokaler Zerstörungsgrad variiert sowohl zwischen Stürmen als auch innerhalb der Stürme. Im Vorfeld eines Hurrikans ist es nahezu unmöglich, vorherzusagen, ob und mit welcher Intensität ein Ort getroffen wird. Diese natürliche Unberechenbarkeit über die Zeit erlaubt es letztendlich, den kausalen politischen Verzerrungseffekt in den Entscheidungen zu isolieren. Um die zeitliche und räumliche Intensität von Hurrikans abzuschätzen, verwendet die Studie ein meteorologisches Modell. Dieses generiert die maximale Windgeschwindigkeit pro County und Jahr aller Hurrikans, die die USA seit 1965 getroffen haben.

Vergrösserte Ansicht: G 2: Hurrikan-Zugbahnen und modellierte Windgeschwindigkeiten (jährlicher Durchschnitt), 1965 – 2018

Politische Bevorzugung am stärksten für mittelstarke Hurrikans

Für jede Windgeschwindigkeit schätzen die Forscher, wie gross der politische Einfluss für die Wahrscheinlichkeit einer «Disaster Declaration» ist. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt darauf, den sogenannten «Alignment Bias» zu berechnen: Wie viel höher ist die Wahrscheinlichkeit für eine «Disaster Declaration», wenn Gouverneur und Präsident der gleichen Partei angehören? Während sich für sehr starke und schwache Windgeschwindigkeiten kein systematischer «Alignment Bias» feststellen lässt, beträgt er für mittelstarke Sturmintensitäten bis zu 20 Prozentpunkte (siehe Grafik G 3). Umgerechnet auf die ausgezahlte Katastrophenhilfe entspricht dies circa 450 Milliarden US-Dollar pro Jahr, die politisch-motiviert verteilt werden (das sind ungefähr 10% der gesamten Hurrikan-Hilfe). Zudem finden die Forscher weitere Evidenz für eine wahltaktische Verzerrung: In Wahljahren sowie in politisch umkämpften Regionen ist die politische Bevorzugung stärker ausgeprägt.

Vergrösserte Ansicht: G 3: Politische Verzerrung für unterschiedliche Windgeschwindigkeiten

Wie lassen sich diese Ergebnisse erklären? US-Präsidenten sehen sich nach Hurrikans einer Reihe von sehr unterschiedlichen Entscheidungssituationen ausgesetzt. Ist die Zerstörung extrem, entscheidet sich der Präsident in den meisten Fällen für eine «Disaster Declaration» in den betroffenen Counties – sei es wegen des eigenen Gerechtigkeitsverständnisses oder weil die Entscheidung der einhelligen öffentlichen Meinung entspricht. In Regionen mit sehr schwachen Windgeschwindigkeiten lässt es sich politisch kaum rechtfertigen, den Katastrophenfall auszurufen. In diesen beiden Fällen ist die Lage eindeutig. Dazwischen gibt es aber Situationen, in denen es weniger klar ersichtlich ist, ob die Freigabe föderaler Hilfsgelder notwendig ist oder nicht. Hier können politische Erwägungen den Ausschlag für oder gegen eine «Disaster Declaration» geben. Ob die Anfrage zur Katastrophenhilfe von einem Parteifreund oder aus einer für die Wiederwahl wichtigen Region kam, kann dann der entscheidende Faktor sein.

Implikationen für Forschung und Praxis

Allgemein lässt sich aus diesen Ergebnissen ableiten, dass es für das Verständnis politischer Bevorzugung wichtig ist – auch statistisch – genau hinzuschauen. Politiker scheinen ein Gespür dafür zu haben, in welchen Entscheidungssituationen die demokratische Kontrolle durch den Wähler eingeschränkt ist, weil es beispielsweise weniger Medienaufmerksamkeit gibt und es schwerer fällt, systematisch ungerechte Entscheidungen zu erkennen. Um das Verhalten von Politikern zu verstehen und den institutionellen Rahmen so anzupassen, dass politische Bevorzugung eingedämmt werden kann, sind präzise Analysen politischer Entscheidungen notwendig, die über das Berechnen von Durchschnittseffekten hinausgehen.

Welche Möglichkeiten gäbe es im konkreten Fall, Abhilfe zu schaffen? Ein erster Ansatz im bestehenden System der USA wäre es, dass Präsidenten ihre Entscheidungen transparent begründen müssen. Aber auch eine Entpolitisierung der Katastrophenhilfe durch Übertragung der Entscheidungsgewalt auf neutrale Experten ohne Wahlanreize wäre ein konstruktiver Ansatz. Zudem würde es der heutige Stand der Technik erlauben, datenbasierte Entscheidungen zu treffen. Ein System, dass die Vergabe von Katastrophenhilfe an bestimmte Grenzwerte koppelt, gibt es beispielsweise in Mexiko (siehe Del Valle et al., 2020). Während Verbesserungen im derzeitigen polarisierten Umfeld der USA eher geringe Chancen auf Umsetzung haben, ist das Thema auch in wirtschaftlichen Entwicklungs- und Schwellenländern hochrelevant. Sie werden im Zuge des Klimawandels vermehrt mit stärker werdenden Naturkatastrophen zu kämpfen haben und verfügen gleichzeitig über begrenzte finanzielle Mittel der Katastrophenhilfe. Das Interesse, staatliche Nothilfesysteme zu installieren, wird auch dort steigen. Ein solches System sollte die Möglichkeit schaffen, Katastrophenlagen möglichst effizient zu bewältigen und Politikern die Möglichkeit nehmen, diese Instrumente strategisch für sich zu nutzen.

Veröffentlichung

Schneider, Stephan A. and Sven Kunze (2022): Disastrous Discretion: Ambiguous Decision Situations Foster Political Favoritism. CESifo Working Paper, 9710.
externe Seitehttps://www.cesifo.org/node/69260
 

Weitere Literatur

Berry, Christopher R., Barry C. Burden, and William G. Howell (2010): The President and the Distribution of Federal Spending. In: American Political Science Review 104.4, pp. 783–799.

Del Valle, Alejandro, Alain de Janvry, and Elisabeth Sadoulet (2020): Rules for Recovery: Impact of Indexed Disaster Funds on Shock Coping in Mexico. In: American Economic Journal: Applied Economics 12.4, pp. 164–195.

Gehring, Kai and Stephan A. Schneider (2018): Towards the Greater Good? EU Commissioners’ Nationality and Budget Allocation in the European Union. In: American Economic Journal: Economic Policy 10.1, pp. 214–39.

Isidore, Chris (2022). Hurricane Ian Deals a Devastating Blow to the Uninsured. In: CNN Business. https://edition.cnn.com/2022/10/07/business/hurricane-ian-uninsured-losses (Oktober 7, 2022).

Larcinese, Valentino, Leonzio Rizzo, and Cecilia Testa (2006): Allocating the U.S. Federal Budget to the States: The Impact of the President. In: The Journal of Politics 68.2, pp. 447–456.

Kontakt

Dr. Stephan A. Schneider
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
  • LEE F 204
  • +41 44 632 48 10

Professur f. Wirtschaftsforschung
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

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