Vera Eichenauer: «Macht ist ein grosses Thema»

Vera Eichenauer

KOF-Ökonomin Vera Eichenauer hat in ihrem Arbeitspapier «Power Shifts, Emigration, and Population Sorting» zusammen mit dem Politikwissenschafter Michaël Aklin die Verschiebung von Machtverhältnissen am Beispiel des Kantons Jura analysiert. Im Interview erläutert sie ihre zentralen Ergebnisse.

Warum sind Power Shifts, also die Verschiebung von Machtverhältnissen in einer Gesellschaft, aus Sicht der Forschung interessant und relevant?
Macht ist seit jeher ein grosses Thema in den Sozialwissenschaften. Es ist stark umkämpft, wer bestimmen kann, in welche Richtung sich eine Gemeinschaft entwickeln soll. In allen Ländern der Welt gibt es soziale Gruppen mit unterschiedlichen politischen Präferenzen und damit ein ständiges Ringen darum, welche politischen Präferenzen sich durchsetzen lassen. Das Thema eines permanenten Machtwechsels hat auch eine hohe Aktualität. In vielen Regionen der Welt, sei es Katalonien, Schottland, Kaschmir oder Kurdistan, fordern Gruppen derzeit mehr regionale Autonomie.

«In allen Ländern der Welt gibt es soziale Gruppen mit unterschiedlichen politischen Präferenzen und damit ein ständiges Ringen darum, welche politischen Präferenzen sich durchsetzen lassen.»
Vera Eichenauer

Wie kommen Power Shifts zustande?
In einem demokratischen System verschiebt sich Macht ständig und friedlich durch Wahlen, allerdings nicht dauerhaft, sondern nur für eine oder mehrere Wahlperioden. Wir schauen uns in unserem Arbeitspapier eine dauerhafte Verschiebung von Machtverhältnissen an. Dies kann durch eine Ausweitung des Wahlrechts geschehen, beispielsweise durch die Einführung des Frauenwahlrechts oder die Senkung des Wahlrechtsalters. Bei unterschiedlichen politischen Präferenzen der Gruppen, die mehr Einfluss erhalten, haben solche dauerhaften Verschiebungen von Machtverhältnissen auch dauerhafte Auswirkungen auf die politische Entwicklung dieser Gemeinschaft, was dann wiederum durch freiwillige Abwanderung Auswirkungen auf die Bevölkerungszusammensetzung haben kann.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Südafrika ist ein prominentes Beispiel für einen Power Shift. Bis 1994 hatte eine kleine Mehrheit, die weisse Bevölkerung, die Macht. Die schwarze Bevölkerung durfte kaum mitbestimmen. Mit dem Ende der Apartheid haben sich die Machtverhältnisse für mehr als nur einige Wahl-perioden verschoben, was zahlreiche weisse Südafrikaner und Südafrikanerinnen zur Auswanderung bewog.

Kann ein Power Shift auch durch Gewalt zustande kommen?
Ja. Aber diesen Fall haben wir aus methodischen Gründen nicht analysiert. Wenn Gewalt im Spiel ist, verlassen Minderheiten – und teils auch Mehrheiten – den Ort oft auch aus Sicherheitsgründen. Das hat nicht direkt mit neuen Machtverhältnissen oder Politikpräferenzen zu tun, sondern schlicht mit Angst vor Terror und Gewalt. Diesen weiteren Grund zur Auswanderung können wir aus methodischen Gründen nicht kontrollieren, weshalb wir uns ausschliesslich mit friedlichen Power Shifts befassen.

Welche Möglichkeiten hat ein Individuum als Reaktion auf einen Power Shift?
In Anlehnung an den amerikanischen Ökonomen Alfred Hirschmann hat es drei Optionen. Es kann sich mit politischem Aktivismus sowie bei Wahlen und Abstimmungen gegen die Machtverschiebung wehren. Diesen Modus nennt Hirschmann «Voice». Zum zweiten kann ein Individuum umziehen und den Ort verlassen. Diese Reaktion nennt Hirschmann «Exit». Die dritte Option – in der Hirschmann-Terminologie «Loyality» – ist, einfach zu bleiben und sich mit der Machtverschiebung zu arrangieren. Mit Hilfe dieser Begriffe haben wir die Machtverschiebungen im Kanton Jura in den 70er Jahren von der deutschsprachigen zur französischsprachigen Bevölkerung analysiert.

Warum eignet sich der Kanton Jura so gut für eine Fallstudie zu Power Shifts?
Bis 1979 gehörte das Gebiet des Kantons Jura zum Kanton Bern mit einer historisch dominanten deutschsprachigen Mehrheit. Seitdem ist der Jura eigenständig mit einer französischsprachigen Mehrheit (siehe Grafik G 1). Im Vergleich zu anderen Sezessionen gab es beim Power Shift im Kanton Jura kaum Gewalt. Die Machtverschiebung hat sich aufgrund mehrerer demokratischer Abstimmungen in den 70er Jahren vollzogen. Aus methodischer Sicht ist es zudem schön, dass wir auch den Berner Jura haben, welcher ja nach wie vor zum Kanton Bern gehört und uns in einer Art natürlichem Experiment als – wenn auch imperfekte – Kontrollgruppe dient.

Vergrösserte Ansicht: G 1: Karte der Schweiz

Was ist das Ergebnis der Studie?
Die Bevölkerung im Jura ist durch die Abspaltung homogener geworden. Die französischsprachige Mehrheit ist grösser geworden, als es der generelle Trend hätte vermuten lassen, weil viele deutschsprachige Bewohner und Bewohnerinnen freiwillig fortgezogen sind. Für deutschsprachige Bewohner und Bewohnerinnen war die Wahrscheinlichkeit, den Kanton Jura zu verlassen, nach unseren Berechnungen 7 Prozentpunkte höher im Vergleich zu Deutschsprachigen in anderen Kantonen und als die französischsprachigen Bewohner und Bewohnerinnen des Kantons Jura.

«Die Bevölkerung im Jura ist durch die Abspaltung homogener geworden. Die französischsprachige Mehrheit ist grösser geworden, als es der generelle Trend hätte vermuten lassen.»
Vera Eichenauer

Warum sind so viele Deutschsprachige weggezogen?
Ganz genau können wir das nicht sagen. Wir denken jedoch, dass viele deutschsprachige Bewohner und Bewohnerinnen nicht zur sprachlichen, politischen und kulturellen Minderheit in ihrem Kanton gehören wollten. Die deutschsprachigen Bewohner und Bewohnerinnen haben andere soziokulturelle Identitäten und andere Politikpräferenzen als die französischsprachigen. Erstere sind tendenziell konservativer und wünschen sich einen schlanken Staat. In dem neuen Gebilde haben sie sich offenbar unwohl gefühlt.

Ist der freiwillige Wegzug unter Umständen sogar gut für die Gesellschaft? Denn in homogenen Gemeinschaften gibt es weniger Konflikte und mehr sozialen Frieden.
Ja, das ist tendenziell so. Es gibt eine umfangreiche Literatur zu der Frage, was die optimale Grösse für ein Land oder eine politische Einheit ist. Demnach leben die Bewohner und Bewohnerinnen von kleinen, homogenen Einheiten ohne grosse Konflikte oft zufriedener. Es gibt aber auch viele Studien, die zeigen, dass Diversität und kulturelle Unterschied gut sind für das Wirtschaftswachstum. Wichtig ist, dass es institutionelle Mechanismen gibt, um Minderheiten zu integrieren und ihren Präferenzen Gehör zu schenken. Die föderale Schweiz mit ihren drei Regierungsebenen ist das beste Beispiel dafür.

Lassen sich die Ergebnisse aus der Jura-Studie auch auf Power Shifts in anderen Ländern übertragen?
Ja. Eine grundsätzliche Erkenntnis ist, dass wenn es andere Mehrheiten gibt, sich nicht nur die Macht verschiebt, sondern auch die Bevölkerungszusammensetzung. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Brexit. So haben viele EU-Bürger und -Bürgerinnen Grossbritannien freiwillig verlassen, nachdem sich eine Mehrheit der Briten für den EU-Austritt ausgesprochen hat.
 

Das Working Paper Paper «Power Shifts, Emigration, and Population Sorting» von Vera Eichenauer und Michaël Aklin finden Sie externe Seitehier.

Kontakte

Dr. Vera Eichenauer
Dozentin am Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften
  • LEE G 120

Professur f. Wirtschaftsforschung
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Thomas Domjahn
  • LEE F 114
  • +41 44 632 53 44

KOF Bereich Zentrale Dienste
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

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