«Die Globalisierung ist noch lange nicht am Ende»

KOF-Direktor Jan-Egbert Sturm spricht im Interview über die Zukunft des internationalen Handels, die Lehren aus der Corona-Krise und die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz.

Der KOF Globalisierungsindex ist von 1970 bis 2018 stetig gestiegen (siehe Grafik G 1). Seit der Finanzkrise ist die Steigung allerdings etwas abgeflacht. Wie sieht Ihre Prognose bezüglich der Globalisierung für die Corona-Krise und die Zeit danach aus?

Vor allem für das Coronajahr 2020 gehen wir von einer Delle aus. Auch während der Finanzkrise haben wir einen Handelsrückgang beobachtet. Die entscheidende Frage ist, was danach passiert. Meine Prognose ist, dass sich der internationale Handel ähnlich flach wie vor der Corona-Krise weiterentwickeln wird. 

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Wird die Corona-Krise einen neuen Trend der regionalen Produktion hervorbringen, weil man während der Krise gelernt hat, dass internationale Lieferketten fragil sind?

Viele Unternehmen setzen als Lehre aus der Krise nun statt auf nur einen Lieferanten aus einer Region auf mehrere Lieferanten in verschiedenen Weltregionen. Aber das reduziert nicht unbedingt die Globalisierung. Den Trend des Insourcings oder die verstärkte regionale Produktion im eigenen Land sehe ich nicht so stark. Auch ein lokaler Lieferant kann in dieselbe Problemlage kommen wie das eigene Unternehmen. Vielleicht ist man dann sogar mit einem Lieferanten aus einem anderen Land besser aufgestellt. Grundsätzlich kann man sich nicht gegen alle Risiken absichern. Nach der Pandemie wird der Preisdruck wieder höher werden. Wenn man mehrere Lieferketten aufbaut, werden auch die Kosten höher, weil man nicht einfach den günstigsten Lieferanten auswählen kann. Es gab ja gute Gründe, warum wir «just in time» produziert haben. Es ist einfach effizienter und man spart sich hohe Lagerhaltungskosten.

Die Erfindung des Internets hat in den 1990er Jahren der Globalisierung einen Schub gegeben. Wird diese positive Wechselwirkung zwischen Digitalisierung und Globalisierung anhalten?

Durch die Digitalisierung ist die Welt kleiner geworden. Die Abstände zwischen den Handelspartnern haben sich reduziert. Das macht es einfacher, Netze zu bilden. Die Erfindung des Internets war ein grosser Impuls für die Globalisierung und dieser Impuls wird sich fortsetzen, zumal das Potenzial der Digitalisierung noch nicht ausgereizt ist, wenn ich an Technologien wie künstliche Intelligenz denke. Deshalb glaube ich, dass die Globalisierung noch lange nicht am Ende ist, denn die Technologie spielt der Globalisierung in die Karten.

China hat sich in den letzten Jahrzehnten – auch dank der Globalisierung – wirtschaftlich extrem gut entwickelt. Sehen Sie noch andere Länder mit einem ähnlichen Wachstumspotenzial?

Das ist schwierig vorherzusagen. Aber man sieht, dass China dank der erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung als Produktionsstandort mittlerweile in einigen Bereichen zu teuer geworden ist, so dass die Produktion in Länder wie Thailand, Vietnam oder Malaysia ausgelagert wird. Wenn diese Länder eines Tages wiederum zu teuer werden, werden andere Wirtschaftsräume, in denen der Produktionsfaktor Arbeit noch günstig ist, profitieren. Und da denkt man automatisch sofort an Afrika. Aber wann und in welchem Ausmass dieser Prozess stattfinden wird, ist kaum zu prognostizieren.

Die Schweiz ist ein kleines Land, hat aber multinationale Konzerne wie Nestlé, Roche oder Novartis hervorgebracht. Kann man sagen, dass kaum ein Land so stark von der Globalisierung profitiert hat wie die Schweiz?

Je kleiner ein Land ist, desto wichtiger ist die internationale Vernetzung. Das gilt sowohl für den wirtschaftlichen als auch für den politischen Bereich. Die Schweiz hat in der Vergangenheit enorm von der Globalisierung profitiert und wird es auch in Zukunft tun.

Dennoch bringt die Globalisierung auch Globalisierungsverlierer hervor. Wie lässt sich diesem Problem begegnen?

Bei jedem Strukturwandel gibt es Gewinner und Verlierer. Das liegt in der Natur der Sache. In der Summe steigert eine Gesellschaft aber durch die Globalisierung ihre Wohlfahrt. Das ist innerhalb der Wirtschaftswissenschaften eine Konsensmeinung. Aber natürlich gibt es immer inländische Branchen, die durch die ausländische Konkurrenz nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Das kann für die Betroffenen durchaus schmerzhaft sein.

Wie sehen Sie derzeit nach dem Scheitern der Verhandlungen zum Rahmenvertrag das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU?

Die Schweiz ist angewiesen auf Kooperation mit ihren wichtigsten Handelspartnern. Und die Europäische Union ist nun mal der wichtigste Handelspartner der Schweiz. Deshalb hoffe ich, dass es beim Rahmenvertrag einen neuen Anlauf geben wird.

Spürt man schon heute die Nachteile durch das Scheitern des Rahmenvertrags?

Die Schweiz hat in der Wissenschaft immer eine wichtige Rolle bei europäischen Forschungsprojekten gespielt. Durch das Scheitern des Rahmenvertrags ist die Schweiz leider bei einigen Projekten aussen vor.

Wie sehen Sie den Wirtschaftsstandort Schweiz insgesamt für den internationalen Wettbewerb aufgestellt?

Die Schweiz ist sehr gut aufgestellt. Vor allem der Pharmasektor hat – auch dank der Beteiligung an der Entwicklung und Produktion von Impfstoffen – derzeit eine hohe Wachstumsdynamik (siehe Grafik G 2). Aber die Schweiz muss aufpassen, dass sie sich nicht auf ihren eigenen Lorbeeren ausruht. Die Schweiz hat in den letzten Jahrzehnten immer Wege gefunden, sich erfolgreich zu repositionieren. Es ist wichtig, diesen Ehrgeiz beizubehalten und die institutionellen Rahmenbedingungen zu schaffen, dass sich die Schweizer Unternehmen immer wieder neu erfinden und an die Bedürfnisse des Weltmarktes anpassen können.

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  • Eine Aufzeichnung des Vortrags von Jan-Egbert Sturm zum Thema «Corona und die Folgen: das Ende der Globalisierung?» finden Sie externe Seitehier.
  • Eine interaktive Weltkarte zum KOF Globalisierungsindex finden Sie hier.
  • Eine Medienmitteilung zu den aktuellen Daten des KOF Globalisierungsindex für das Jahr 2019 finden Sie hier.

Kontakte

Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm
Ordentlicher Professor am Departement Management, Technologie und Ökonomie
Direktor KOF Konjunkturforschungsstelle
  • LEE G 305
  • +41 44 632 50 01

Professur f. Wirtschaftsforschung
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

Dr. Thomas Domjahn
  • LEE F 114
  • +41 44 632 53 44

KOF Bereich Zentrale Dienste
Leonhardstrasse 21
8092 Zürich
Schweiz

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