COVID-19 in der Schweiz: Haben die Eindämmungsmassnahmen gewirkt?

Im Kampf gegen die COVID-​19-Pandemie setzen viele Länder auf nicht ​pharmazeutische Eindämmungsmassnahmen, um den Anstieg der Infektions- und Todeszahlen zu verlangsamen. Welchen Einfluss haben diese Restriktionen auf das Infektionsgeschehen in der Schweiz? Eine neue Studie der KOF zeigt, dass Eindämmungsmassnahmen zu einem Rückgang der Neuinfektionen geführt haben. Darüber hinaus leistet die Schweizer Bevölkerung auch durch freiwillige Anpassungen ihres Verhaltens einen Beitrag.

Frau mit Maske

Der KOF Stringency Index dokumentiert die Strenge der kantonalen und nationalen Massnahmen

Die Zahl der registrierten COVID-19-Fälle weltweit überschritt im August 2021 die 200-Millionen-Marke. Neben Impfkampagnen sind nicht pharmazeutische Massnahmen ein wichtiger Baustein in der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Der Oxford Stringency Index verschafft einen Überblick über die geltenden Massnahmen in mehr als 180 Ländern. Dafür wird die Strenge der Einschränkungen (engl. stringency) auf einer Skala von 0 bis 100 erfasst, wobei ein Wert von 0 keinen Einschränkungen entspricht und 100 bedeutet, dass in allen Kategorien des Index die strengste Massnahme ergriffen wurde.

Für die Schweiz steht der Oxford Stringency Index nur für die Gesamtschweiz zur Verfügung. Aufgrund der hohen politischen Autonomie der Kantone können sich die Eindämmungsmassnahmen von Kanton zu Kanton unterscheiden. Vor allem im Herbst 2020 machten die Kantone von dieser Freiheit Gebrauch. Die KOF hat deshalb einen Stringency (-Plus) Index konstruiert, der die Strenge der Massnahmen nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf kantonaler Ebene abbildet. Der Index umfasst zehn Sub-​Indikatoren: die Schliessung von Schulen sowie von Arbeitsplätzen, Veranstaltungs-​ sowie Versammlungsverbote, Einschränkungen des öffentlichen Verkehrs, Ausgangssperren, Einschränkungen für Inlandsreisen, internationale Reiserestriktionen, öffentliche Informationskampagnen und Richtlinien für die Verwendung von Mund-​ und Nasenschutz.

Während der «ausserordentlichen Lage» vom 16. März bis 19. Juni 2020 wurden alle COVID-19-Massnahmen vom Bund getroffen (Grafik G 1). Der darauf folgende Sommer war von relativ niedrigen Fallzahlen geprägt. Durch den Wechsel von der ausserordentlichen in die besondere Lage konnten die Kantone zudem nach eigenem Ermessen Schutzmassnahmen einführen. Ab Oktober 2020 kam es wiederum zu einem rasanten Anstieg der Neuinfektionen, woraufhin die kantonalen Regierungen vermehrt restriktivere Vorschriften festlegten. Generell war das Niveau der Massnahmen in den Westschweizer Kantonen im Herbst 2020 höher. Die Vorreiter dieser Entwicklung waren Genf, Jura, Neuenburg und Waadt. Dabei wurde vor allem auf strengere Regeln im Kultur-​ und Gastronomiebereich sowie auf restriktivere Versammlungseinschränkungen gesetzt. Seit Mitte Januar 2021 gibt der Bund die Massnahmen wieder vor und die kantonalen Indizes verlaufen somit auf gleichem Niveau.

G 1: KOF Stringency Indizes

Welchen Einfluss haben die Eindämmungsmassnahmen auf das Infektionsgeschehen?

Die kantonale Heterogenität in der Umsetzung der Massnahmen bietet ein interessantes Umfeld für die Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen den Schutzmassnahmen, dem Infektionsgeschehen und dem Verhalten der Schweizer Bevölkerung. Idealerweise führt die Einführung von Restriktionen zu Verhaltensanpassungen, welche wiederum zu einer Verlangsamung des Infektionsgeschehens beitragen. Beispielsweise sollen durch Schliessungen im Detailhandel und Veranstaltungseinschränkungen die Anzahl der Kontakte und damit potenzielle Krankheitsübertragungen reduziert werden. Andererseits will die Politik eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern und reagiert auf einen Anstieg der Infektionszahlen mit der Einführung von Schutzmassnahmen. Aus Angst vor einer Ansteckung kommt es in Teilen der Bevölkerung auch zu freiwilligen Verhaltensänderungen.

Das Zusammenspiel dieser drei Faktoren (Massnahmen, Verhalten, Infektionsgeschehen) wurde für den Zeitraum von Ende September bis Mitte April analysiert, welcher die zweite Infektionswelle in der Schweiz umfasst. Dabei wurde das Infektionsgeschehen durch die effektive Reproduktionszahl abgebildet und die Eindämmungsmassnahmen durch die KOF Stringency (-Plus) Indikatoren.1 Für das Verhalten der Schweizer Bevölkerung wurde zum einen auf Transaktionen mit Debitkarten und zum anderen auf Mobilitätsdaten zurückgegriffen. Während beispielsweise Restaurants oder Geschäfte geschlossen sind, werden weniger Zahlungen per Debitkarte getätigt. Gleichzeitig reduziert sich auch die Mobilität, denn der Weg zum Restaurant und zum Einkaufszentrum fällt weg. Somit dokumentieren sowohl Änderungen der Mobilität als auch das Ausmass an Kartenzahlungen freiwillige und auferlegte Verhaltensänderungen der Gesellschaft.

Strengere Massnahmen führen gemäss der Analyse zu einer Reduktion der Kartentransaktionen/Mobilität und schlussendlich der Neuinfektionen. Ausserdem scheint es für die Effektivität der Massnahmen keine Rolle zu spielen, ob sie auf nationaler oder kantonaler Ebene beschlossen werden. Grafik G 2 zeigt für zwei verschiedene Modelle, wie die Neuinfektionen auf einen 10-Punkte-Anstieg des KOF Stringency (-Plus) Indikators in den darauf folgenden zwölf Wochen reagieren: Im ersten Modell (blau) wird die Variation aller, d.h. nationaler und kantonaler, Massnahmen berücksichtigt, um den Effekt dieses Impulses zu analysieren. Das zweite Modell (rot) konzentriert sich auf die Variation in den kantonalen Massnahmen. In beiden Fällen führt eine Erhöhung des Indikators um 10 Punkte zu einer durchschnittlichen Reduktion der Neuinfektionen um rund 30% nach zwei Wochen. Dies gilt sowohl für nationale als auch für kantonale Massnahmen. Da das erste Modell sowohl die zeitliche als auch die interkantonale Variation berücksichtigt, werden die geschätzten Effekte mit höherer Sicherheit und damit präziser geschätzt. Das zweite Modell hat den Vorteil, dass wir kantonsübergreifende Trends der Pandemie gesondert berücksichtigen und so dem direkten Effekt der (kantonalen) Massnahmen auf den Verlauf der Pandemie näherkommen. Der Unterschied zwischen der blauen und roten Linie ist statistisch nicht signifikant, was uns in der Einschätzung bestärkt, dass die gefundene Beziehung kausal ist.

G 2: Reaktion der Neuinfektionen auf einen Anstieg des KOF Stringency (-Plus) Indikators

Wie reagiert die Schweizer Bevölkerung auf einen Anstieg der Neuinfektionen?

Ein Anstieg der Zahl an Neuinfektionen hat dagegen striktere Massnahmen und einen Konsum- bzw. Mobilitätsrückgang zur Folge. Dabei ist die Reaktion der Politik langsamer als jene der Bevölkerung, was wiederum suggeriert, dass zumindest kurzfristige Verhaltensanpassungen oft freiwillig geschehen. Schaltet man den direkten Einfluss der Massnahmen auf das Verhalten im Modell ex post aus, bestätigt sich diese Erkenntnis: Kurzfristige Änderungen im Verhalten als Reaktion auf eine Beschleunigung des Infektionsgeschehens sind freiwillig, während nach einigen Wochen etwa die Hälfte der Anpassungen durch strengere Massnahmen bestimmt werden.

Welche Massnahmen sind besonders effektiv?

Eine Analyse der Effektivität der einzelnen Massnahmen stellt eine Herausforderung dar. Zum einen werden viele Restriktionen gleichzeitig eingeführt, wodurch die resultierenden Effekte nicht voneinander abgegrenzt werden können. Zum anderen variieren einige Eindämmungsmassnahmen kaum über die Zeit beziehungsweise weisen keine Unterschiede zwischen den Kantonen auf, was die statistische Identifikation ebenfalls erheblich erschwert. Sowohl für Beschränkungen bezüglich Versammlungen als auch für Arbeitsstätten deuten die Ergebnisse jedoch daraufhin, dass sie im Vergleich zu anderen Massnahmen überdurchschnittlich effektiv sind. Dazu gehören Beschränkungen der Personenanzahl von privaten Treffen, die Home-Office-Pflicht oder -Empfehlung und die Schliessung von Restaurants als auch jene des Detailhandels.

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1) Der Sommer 2020 ist aus zwei Gründen nicht Teil der Analyse. Zum einen ist die niedrige Anzahl an Infektionen in dieser Zeit mit einer hohen Schätzungsunsicherheit für die effektive Reproduktionszahl verbunden. Zum anderen ist es wahrscheinlich, dass solch niedrige Inzidenzniveaus die Reaktion der Politik und das Verhalten auf Veränderungen des Infektionswachstums unterdrücken. Im Gegensatz dazu lag im übrigen Analysezeitraum die 14-Tage-Inzidenz meist weit über einem kritischen Wert von 60, so dass das öffentliche und politische Bewusstsein für die epidemiologische Situation gestärkt wurde.

Das Working Paper, auf dem dieser Artikel basiert, finden Sie hier.
Die Daten zum Stringency Index finden Sie hier.

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Sina Streicher
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