Schneller, flexibler, herausfordernder: Wie sich die Forschung an der KOF durch COVID-19 verändert hat

Abgesagte Veranstaltungen, Zoom-Konferenzen und die Betreuung von Kindern im Homeoffice: Die Corona-Pandemie hat die Arbeitswelt einschneidend verändert – auch an der KOF. Darüber hinaus mussten sich die Forschenden methodisch und inhaltlich neu aufstellen, um den vielen Facetten und der hohen Dynamik der Corona-Krise gerecht zu werden. Acht KOF-Ökonominnen und -Ökonomen erzählen, wie COVID-19 ihre Forschung durcheinandergebracht hat und was sie durch die Pandemie für ihre Arbeit gelernt haben.

Home Office
Sina Streicher (Doktorandin, Forschungsbereich Konjunktur) und Dr. Alexander Rathke (Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Forschungsbereich Data Science und Makroökonometrische Methoden)
Sina Streicher (Doktorandin, Forschungsbereich Konjunktur) und Dr. Alexander Rathke (Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Forschungsbereich Data Science und Makroökonometrische Methoden)

«Normalerweise erstellen wir unsere Prognosen monats- und quartalsweise. Durch die Pandemie mit ihrem dynamischen Infektionsgeschehen und den einschneidenden politischen Interventionen mussten wir zwischenzeitlich auf eine wöchentliche Frequenz umstellen. Die Herausforderung war dabei, dass wir teilweise gar nicht auf klassische ökonomische Indikatoren zurückgreifen konnten. Also mussten wir kreativ werden. Um den privaten Konsum berechnen zu können, haben wir beispielweise das Transaktionsvolumen an Bargeldbezügen mit Debitkarten, Zahlungen im Präsenzgeschäft mit Debitkarten sowie Zahlungen mit Kreditkarten im Distanz- und Präsenzgeschäft in unsere Modelle einfliessen lassen. Die politischen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit haben wir durch einen Mobilitätsindikator, in den unter anderem das Verkehrsaufkommen im Individualverkehr, die Benutzung des öffentlichen Verkehrs und Flugbewegungen einfliessen, abgebildet. Schon Anfang April letzten Jahres haben wir ein auf die Corona-Zeit zugeschnittenes Basismodell für Konjunkturprognosen entwickelt, das wir dann im Laufe der Zeit immer weiter verfeinert und optimiert haben. Heute haben wir fast schon Routine bei der Erstellung von Konjunkturprognosen in Corona-Zeiten. Für uns Ökonomen und Ökonominnen war das vergangene Jahr eine extrem spannende Zeit. Es ist zwar leider viel Grundsatzforschung liegen geblieben, weil wir uns hauptsächlich auf die Prognose konzentriert haben. Aber die Prognosetätigkeit an sich war wohl selten so herausfordernd, denn die Corona-Krise ist nicht mit anderen Krisen wie der Finanzkrise oder dem Frankenschock vergleichbar. Wir mussten ständig mit verschiedenen Szenarien arbeiten. Das sind wir zwar grundsätzlich gewohnt, da es immer politische Unsicherheitsfaktoren wie zum Beispiel den Brexit gibt. Doch die Unsicherheit war vermutlich historisch noch nie so hoch wie im letzten Jahr.»

Florian Eckert (Doktorand, Sektion Internationale Konjunktur)
Florian Eckert (Doktorand, Sektion Internationale Konjunktur)

«Ich glaube, dass wir Ökonomen und Ökonominnen im Krisenjahr 2020 so viel dazugelernt haben wie schon seit Langem nicht mehr. Die Pandemie hat uns gezwungen, noch schneller und praxisnäher zu forschen. Zu normalen Zeiten funktionieren unsere Prognosemodelle relativ zuverlässig. So lassen sich aufgrund jahrzehntelanger Erfahrung aus der Industrieproduktion ziemlich präzise Rückschlüsse für das verarbeitende Gewerbe ziehen. Aber zu Beginn der Corona-Krise mussten wir ständig unsere Prognosen nachjustieren, weil sich die Nachrichtenlage fast im Minutentakt geändert hat. Da klassische Indikatoren wie die Industrieproduktion oft erst mit einem Monat Verspätung gemeldet werden, mussten wir auf alternative Daten wie zum Beispiel Google-Suchabfragen, Kreditkartentransaktionen und Bewegungsdaten ausweichen. Diese korrelieren zwar nicht immer perfekt mit dem, was wir wirklich suchen, sind aber oft eine gute Näherung und vor allem sofort verfügbar. Und Schnelligkeit war im Corona-Jahr 2020 so gefragt wie noch nie. Die Corona-Krise hat viele Anomalien mit sich gebracht. Viele ökonomische Erfahrungswerte mussten wir über den Haufen werfen und umdenken. So ist es relativ untypisch, dass die sonst doch relativ stabilen Konsumausgaben in Bereichen wie Reisen oder bei Restaurantbesuchen plötzlich auf null fallen. Und das Hotel- und Gaststättengewerbe ist eigentlich bei Wirtschaftskrisen normalerweise nicht so anfällig. 2021 wird uns die Corona-Krise weiter beschäftigen. So werden wir beispielsweise die Konkurse in der Schweiz im Auge behalten. Auch wenn bisher dank Staatshilfen eine grosse Konkurswelle ausgeblieben ist, befürchten wir einen Anstieg der Konkurse im Frühling.»

Dr. Klaus Abberger (Leiter des Forschungsbereichs Konjunkturumfragen)
Dr. Klaus Abberger (Leiter des Forschungs-bereichs Konjunktur-umfragen)

«Wir haben als Reaktion auf die Pandemie relativ schnell unsere Unternehmensumfragen bei mehr als 4500 Schweizer Betrieben durch Corona-Sonderfragen ergänzt. Am Anfang, als das Ausmass der Krise noch nicht absehbar war, haben wir uns vor allem dafür interessiert, ob Lieferketten noch intakt waren und ob es Einschränkungen beim Personaleinsatz gab. Später haben wir dann auch die Erwartungen bezüglich des Jahresumsatzes und die allgemeine Unsicherheit abgefragt, um noch genauere Konjunkturprognosen zu erstellen. Wir hatten erst die Befürchtung, dass wir die Unternehmen durch die Zusatzfragen überfordern, denn diese hatten ja während der Pandemie genug andere Sorgen. Doch wir haben trotz der Krise einen hohen Rücklauf bei unseren Fragebögen gehabt. Besonders auffällig war, dass die verschiedenen Branchen unterschiedlich stark betroffen waren. Normalerweise ist ein Konjunkturabschwung ein breites gesamtwirtschaftliches Phänomen, das alle Branchen mehr oder weniger nach unten zieht. Diesmal gab es eindeutige Gewinner wie den Online-Handel und klare Verlierer wie den Tourismussektor. Einige Branchen wie der Detailhandel haben sich im Gegensatz zu anderen Sektoren sehr schnell vom ersten Lockdown erholt. Ich als Ökonom, der sich seit Jahrzehnten mit der Konjunktur beschäftigt, hatte eigentlich geglaubt, nach der Finanz- und Eurokrise die schlimmste Wirtschaftskrise meiner akademischen Karriere hinter mir zu haben. Doch die Corona-Krise hat gezeigt, dass es noch schlimmer kommen kann.»

Dr. Regina Pleninger (Postdoktorandin, Forschungsbereich Applied Macroeconomics)
Dr. Regina Pleninger (Postdoktorandin, Forschungs-bereich Applied Macroeconomics)

«Für die Analyse der Corona-Krise spielen die staatlichen Eindämmungsmassnahmen wie zum Beispiel die Schliessung von Schulen, Betrieben, Restaurants, Sportstätten oder Geschäften eine wichtige Rolle. Der sogenannte Oxford Stringency Index versucht, die Strenge dieser Massnahmen zu quantifizieren. Sein Wert liegt zwischen 0 (keine Massnahmen) und 100 (vollständiger Lockdown). Allerdings existiert der Index nur für die gesamte Schweiz, nicht aber für die einzelnen Kantone. Deshalb haben wir – in Anlehnung an den Oxford Stringency Index – den KOF Stringency Index entwickelt, der Vergleiche zwischen den einzelnen Kantonen möglich macht. Diesen aktualisieren wir ständig. Das war insbesondere in der Phase kurz vor Weihnachten, als fast täglich neue politische Eindämmungsmassnahmen auf kantonaler Ebene beschlossen wurden, eine grosse Herausforderung. Derzeit werten wir die Effektivität der unterschiedlichen kantonalen Corona-Strategien im Detail aus. Besonders für das vierte Quartal 2020, als die Kantone mit unterschiedlichen Massnahmen gegen die Pandemie gekämpft haben, liefert der KOF Stringency Index wertvolle Einsichten, die auch in die Arbeit der Swiss National COVID-19 Science Task Force einfliessen.»

Dr. Isabel Z. Martínez (Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Forschungsbereich Applied Macroeconomics)
Dr. Isabel Z. Martínez (Wissenschaft-liche Mitarbeiterin, Forschungs-bereich Applied Macroeconomics)

«Ich bin mitten in der Corona-Krise im April 2020 an die KOF gekommen. Leider konnte ich mich aufgrund der Homeoffice-Regelung weder bei meinem alten Arbeitgeber, dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund, richtig verabschieden noch alle meine neuen Kolleginnen und Kollegen an der KOF persönlich kennenlernen. Fachlich habe ich allerdings keine lange Einarbeitungsphase gebraucht, da ich einige meiner alten Projekte an der KOF fortführen konnte. So habe ich schon vor der Pandemie mit Google-Suchanfragen experimentiert. Die Fragestellung war, welche ökonomischen Trends sich in Echtzeit aus diesen Daten ableiten lassen. Zusammen mit befreundeten Ökonominnen und neuen Kollegen von der KOF haben wir beim Corona-Hackathon #VersusVirus mitgemacht und das Projekt «trendEcon» aus der Taufe gehoben. Im Anschluss konnten wir eine Finanzierung für die Verfeinerung dieser Methodik sichern. trendEcon ist quasi ein ökonomischer Pulsmesser für die wirtschaftliche Aktivität in der Schweiz, basierend auf Google-Suchanfragen. Dieser ersetzt zwar nicht die Analyse klassischer ökonomischer Indikatoren wie zum Beispiel der Arbeitslosenquote, doch er ist eine Ergänzung, die tagesaktuell Trends verdeutlichen kann – und genau diese Aktualität war beim Ausbruch der Corona-Krise gefragt. Eine der Herausforderungen bei der Entwicklung von trendEcon war, dass man sich in die Menschen und ihr Suchverhalten bei Google hineindenken muss, was weit über das reine Messen von ökonomischen Variablen hinausgeht. Auch bei meinem eigentlichen Forschungsthema – der wirtschaftlichen Ungleichheit – ist durch Corona einiges in Bewegung geraten. Zum einen hat die Corona-Krise das öffentliche und mediale Interesse an gesellschaftlicher Ungleichheit deutlich erhöht. Zum anderen sind einige zuvor unsichtbare Gruppen wie zum Beispiel die Sans Papiers plötzlich sichtbar geworden. Diese tauchen zwar – weil sie keinen legalen Aufenthaltsstatus haben – in keiner Statistik auf. Doch da sie oft prekär beschäftigt sind und keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld oder Arbeitslosengeld haben, waren die Sans Papiers die mit am stärksten betroffene Gruppe der Corona-Krise, welche in vielen Bereichen bestehende soziale Ungleichheiten verstärkt hat.»

Dr. Michael Siegenthaler (Leiter der Sektion Arbeitsmarkt)
Dr. Michael Siegenthaler (Leiter der Sektion Arbeitsmarkt)

«Das Jahr 2020 wird vermutlich in die Annalen der Konjunktur- und Arbeitsmarktforschung eingehen. Noch nie waren wir so sehr gezwungen, innert kürzester Zeit Antworten auf neue arbeitsmarktpolitische Fragen zu finden. Anstatt mit monatlichen Arbeitslosenzahlen zu operieren, sind wir beispielsweise auf tagesaktuelle Daten zur Zahl der Stellensuchenden ausgewichen, die ein guter Frühindikator für die Arbeitslosigkeit sind. Zum Glück hatten wir schon für ein anderes Projekt vor zwei Jahren mit der Erhebung dieser Daten begonnen. Dadurch ergab sich ein Erfahrungsvorsprung und wir konnten so die saisonalen Schwankungen in den Stellensuchendendaten von der konjunkturellen Entwicklung unterscheiden. Die grosse Entlassungswelle ist in der Schweiz zum Glück bisher ausgeblieben, was vor allem auch am Instrument der Kurzarbeit liegt. Während Kurzarbeit vor der Corona-Krise in der Wissenschaft noch umstritten war, gibt es nun weitgehend Einigkeit, dass dieses Instrument Entlassungen effektiv verhindert und zum Abfedern von Wirtschaftskrisen geeignet ist – das zeigt auch ein Vergleich mit den USA, wo die Arbeitslosenzahlen durch die Corona-Krise extrem stark gestiegen sind. Zu Beginn der Corona-Krise gab es noch den liberalen Reflex, auf die Selbstreinigungskräfte des Marktes zu hoffen. Die Krise wurde in manchen Kreisen als hilfreich empfunden, da sie strukturell schwache Firmen in einer Art kreativen Zerstörung aus dem Markt drängen würde. Doch dieses liberale Paradigma gilt in der aktuellen Krise nicht. Denn zur Eindämmung des Virus wurde den Betrieben verboten, zu wirtschaften. Dadurch standen auch viele sehr produktive und profitable Betriebe unverschuldet vor dem Nichts. Es war zur Sicherung dieser gesunden Strukturen deshalb richtig, mit der grossen Kelle anzurichten und mit Krediten, Kurzarbeit und Konjunkturpaketen auf die Corona-bedingten Betriebsschliessungen zu reagieren – sonst wäre die Krise nur noch schlimmer geworden.»

Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm (KOF-Direktor und Mitglied der Swiss National COVID-19 Science Task Force)
Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm (KOF-Direktor und Mitglied der Swiss National COVID-19 Science Task Force)

«Oft mahlen die Mühlen in der Wissenschaft recht langsam. So kann es manchmal Jahre dauern, bis ein Forschungspapier im Bereich der Volkswirtschaftslehre veröffentlicht wird. In der Corona-Krise wurden wir Forschenden gezwungen, schneller und noch angewandter zu forschen. Das galt und gilt insbesondere für meine Tätigkeit in der wissenschaftlichen Corona-Taskforce; die Politik muss schnell Entscheidungen treffen und ist dabei auch auf wissenschaftliche Expertise angewiesen. Da wir in einer Lage der Ungewissheit waren und teilweise noch sind, war Wissenschaft in der Politikberatung und in den Medien stark gefragt. Entsprechend musste die Wissenschaft unter Hochdruck arbeiten. So wurde ein Impfstoff in Rekordzeit entwickelt. Auch in der Ökonomie mussten wir schnell unsere Schlagzahl erhöhen. Dabei konnten wir nur bedingt auf unsere Vorerfahrungen aus der Finanzkrise zurückgreifen, denn der Vergleich der beiden Krisen hinkt auf vielen Ebenen. Die Ursachen sind völlig verschieden und die Corona-Krise trifft die breite Bevölkerung viel stärker, nicht nur wirtschaftlich. Allerdings birgt die aktuelle Krise auch das Potenzial einer schnelleren Normalisierung. Sobald wir die Pandemie gesundheitspolitisch im Griff haben, wird sich die Wirtschaft schneller als 2008/09 erholen können. Die akademische Aufarbeitung der Corona-Krise wird dagegen noch lange andauern. So wie über die Great Depression in den 1930er-Jahren heute noch geforscht wird, wird auch die Pandemie uns Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen noch Jahre und Jahrzehnte beschäftigen.»

Dr. Matthias Bannert (Bereich Informatiksysteme)
Dr. Matthias Bannert (Bereich Informatik-systeme)

«Üblicherweise erheben wir an der KOF unsere Daten für die Forschung durch Unternehmensumfragen selbst oder greifen auf Datensätze der Schweizerischen Nationalbank, des Bundesamts für Statistik oder des Staatssekretariats für Wirtschaft zurück. Durch die hohe Dynamik der Corona-Krise mussten wir von diesen Monats- oder Quartalsdaten auf neuartige Datensätze aus ganz anderen Quellen zurückgreifen. So haben wir beispielsweise Daten aus einer Park-App oder Flugdaten vom Flughafen Zürich genutzt, um das veränderte Mobilitätsverhalten der Schweizer messen zu können. Ausserdem haben wir zusammen mit dem Marktforschungsunternehmen Intervista Tracking-Daten von über 2500 Schweizern, die freiwillig an der Studie teilgenommen haben, ausgewertet. Aus diesen Mobilitätsdaten ist dann der KOF Mobilitätsindikator entstanden. All diese Datensätze, die ursprünglich nur für die interne Forschung gedacht waren, haben wir dann in einem Open-Source-Projekt der gesamten Öffentlichkeit auf unserem sogenannten High Frequency Dashboard zur Verfügung gestellt. Dort haben wir auf einer Internetseite 18 Datensätze, die teilweise mehrfach täglich aktualisiert werden, zusammengetragen. Bei der Auswahl der Daten sind die Ideen von fast 50 Forschenden eingeflossen. Diese Daten laufen automatisch ein und können von den Nutzenden maschinell ausgelesen werden. Wir Informatiker bezeichnen das als Maschine-zu-Maschine-Kommunikation. Auch wenn die Plattform technisch noch Verbesserungspotenzial hat, war es uns wichtig, diese Zwischenlösung schnell zu entwickeln. In der Informatik geht es um Agilität. Man hat nicht wie in der Formel 1 ein Jahr Zeit, um das perfekte Auto zu entwickeln.»

Aktuelle Daten und Indikatoren zur derzeitigen wirtschaftlichen Entwicklung im Hinblick auf die COVID-19-Pandemie finden Sie hier.

Ähnliche Themen

KOF Bulletin

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert