Was erklärt den Anstieg der öffentlichen Sozialausgaben in den OECD-Ländern?

Fast alle Industrieländer haben heute höhere öffentliche Sozialausgaben als noch vor einigen Jahrzehnten. Wie kam es zu diesem Anstieg? Eine aktuelle Studie der KOF zeigt: Vor allem die Globalisierung, ökonomische Krisen und eine steigende Arbeitslosigkeit sowie eine alternde Bevölkerung wirken sich auf die Sozialausgaben aus. Auch die COVID-19-Pandemie dürfte die künftige Entwicklung beeinflussen.

In den letzten Jahrzehnten sind die öffentlichen Sozialausgaben in den Industrieländern stark angestiegen. Betrug die Sozialausgabenquote, also der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandprodukt (BIP), in den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Jahr 1980 durchschnittlich 16.6%, erreichte sie im Jahr 2016 knapp 22%. Besonders kräftig war der Anstieg dabei im Zuge der Finanzkrise ab 2008 (siehe G 3-A). Auch wenn die Grösse des Sozialstaates in den einzelnen Ländern traditionell sehr unterschiedlich ist, konnte der Anstieg der öffentlichen Sozialausgaben in nahezu allen Industrieländern beobachtet werden (siehe G 3-B).

Sozialausgaben

Die öffentlichen Sozialausgaben nehmen eine wichtige Funktion bei der sozialen Absicherung ein, beispielsweise im Alter, bei Krankheit oder beim Verlust des Arbeitsplatzes. In den meisten Industriestaaten bilden die Sozialausgaben daher auch den grössten Ausgabenposten im staatlichen Budget. Steigende Sozialausgaben können aber zu einer Verdrängung anderer Ausgabenposten führen, wenn die Einnahmen konstant bleiben. Ein Umstand, der von Kommentatoren bereits als «Dominanz des Sozialen» betitelt wurde.

Was erklärt den Anstieg der Sozialausgabenquote in den Industrieländern und welche Faktoren sind für die unterschiedliche Grösse des Sozialstaates in den einzelnen Ländern verantwortlich? In der ökonomischen Forschung wird eine Vielzahl von Bestimmungsfaktoren diskutiert. Dazu gehören wirtschaftliche und demografische Faktoren, wie beispielsweise der Konjunkturzyklus oder die Alterung einer Gesellschaft, aber auch die Auswirkungen der Globalisierung oder politisch-institutionelle Faktoren, etwa das Regierungssystem eines Landes oder die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung.

Eine Vielzahl von Bestimmungsfaktoren

Eine aktuelle Studie der KOF fasst alle unterschiedlichen Bestimmungsfaktoren aus der ökonomischen Forschung zusammen und identifiziert anhand statistischer Verfahren die robusten Determinanten der öffentlichen Sozialausgaben.

Zu den wirtschaftlichen Bestimmungsfaktoren zählen insbesondere die Auswirkungen der Konjunktur. So steigt die Sozialausgabenquote beispielsweise in Rezessionen an, weil sich die Wirtschaftsleistung verringert und gleichzeitig eine höhere Arbeitslosigkeit den Bedarf nach öffentlichen Sozialleistungen erhöht. Zu den demografischen und somit längerfristig wirksamen Faktoren gehört insbesondere eine alternde Bevölkerung, die mit steigenden Rentenansprüchen einhergeht.

Auch die Globalisierung hat einen Einfluss auf die öffentlichen Sozialausgaben. Einige Theorien beschreiben, dass die Globalisierung die öffentlichen Sozialausgaben reduziert. Dazu kommt es, wenn ein verschärfter Steuerwettbewerb zwischen den Staaten im Zuge der Globalisierung die Steuereinnahmen senkt, was schlussendlich zu niedrigeren Staatsausgaben, unter anderem im sozialen Bereich, führen kann. Ein positiver Effekt der Globalisierung auf die Sozialausgaben kommt zustande, wenn die Wählerschaft eines Landes höhere staatliche Unterstützungsleistungen und eine höhere Einkommensverteilung fordert, um besser vom steigenden Wettbewerb im Zuge der Globalisierung geschützt zu sein.

Ein grosser Literaturstrang wiederum verweist auf die politisch-institutionellen Gegebenheiten eines Landes. Die parteipolitische Zusammensetzung einer Regierung kann für die Höhe der Sozialausgaben eine Rolle spielen, weil linke Parteien gegenüber rechten Parteien traditionell einen umfassenderen Sozialstaat bevorzugen. Die Theorie zu politischen Haushaltszyklen zeigt wiederum auf, dass Politiker die Staatsausgaben vor Wahlen erhöhen, um ihre Wiederwahl zu sichern. Auch die politische Partizipation der Bürgerinnen und Bürger kann einen Einfluss auf die Sozialausgaben haben, weil mit steigender Partizipation tendenziell marginalisierte Wählerinnen und Wähler an die Urne gehen, die von einem ausgebauten Sozialstaat profitieren.

Schliesslich können auch wirtschaftspolitische Gegebenheiten erklären, warum öffentliche Sozialausgaben zwischen den Ländern und über die Zeit variieren. So können strikte Fiskalregeln wie beispielsweise eine Schuldenbremse, bindende Vorgaben supranationaler Institutionen oder eine steigende Verschuldung eine Ausdehnung der Staatsausgaben, auch im sozialen Bereich, bremsen.

Ausgaben hängen von externen Faktoren ab – aber nicht nur

Durch eine ausgiebige Literaturrecherche zu den Bestimmungsfaktoren der öffentlichen Sozialausgaben werden 30 Variablen identifiziert. Weitere Variablen kommen bei der Berücksichtigung möglicher Interaktionseffekte hinzu. Der verwendete Datensatz deckt die Jahre von 1980 bis 2016 für 31 OECD-Länder ab. Die robusten Bestimmungsfaktoren der öffentlichen Sozialausgaben werden anhand der Extremwertanalyse und der Bayesianischen Durchschnittsmethode ermittelt (siehe Kasten «Methodik»).

Determinanten

Die Resultate zeigen, dass sich insbesondere die Globalisierung, ökonomische Krisen und eine steigende Arbeitslosigkeit, eine alternde Bevölkerung sowie einige politisch-institutionelle Faktoren auf die öffentlichen Sozialausgaben auswirken. So korrelieren die Variablen für Handelsglobalisierung, die Fraktionalisierung der Parteienlandschaft und Haushaltsdefizite negativ mit den Sozialausgaben. Die Variablen für Koalitionsregierungen, Finanzkrisen, die Staatsverschuldung, Alterung, die Arbeitslosenquote sowie die soziale Globalisierung korrelieren positiv mit den Sozialausgaben (siehe G 4). Beispielsweise geht eine Zunahme im Mass für die (De-facto-)Handelsglobalisierung um eine Standardabweichung im Durchschnitt mit einer tieferen Sozialausgabenquote von fast 2 Prozentpunkten einher. Eine Zunahme im Mass für die soziale Globalisierung um eine Standardabweichung geht andererseits mit einer höheren Sozialausgabenquote von durchschnittlich 2.5 bis 3 Prozentpunkten einher.

Die Resultate zeigen, dass die hohe Sozialausgabenquote in vielen Ländern zu einem grossen Teil von Faktoren abhängen, die für die politischen Entscheidungsträger eines einzelnen Landes exogen vorgegeben zu sein scheinen. Dazu gehören wirtschaftliche Krisen, aber auch längerfristige Phänomene wie die Alterung der Gesellschaft und Auswirkungen der Globalisierung. Daraus folgernd kann davon ausgegangen werden, dass sich auch im Zuge der gegenwärtigen Pandemie die Sozialausgaben stark erhöhen werden. Gleichwohl zeigen die Resultate aber auch, dass die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger trotz dieser externen Determinanten weiterhin Spielraum haben, durch nationale Massnahmen die Sozialpolitik eines Landes zu beeinflussen.

Eine ausführliche Version dieser Studie finden Sie hier.

Methodik

Um die robusten Bestimmungsfaktoren zu identifizieren, wird die Methode der Extremwertanalyse (extreme bounds analysis, EBA) und der Bayesianischen Durchschnittsmethode (Bayesian model averaging, BMA) angewendet. Bei beiden Methoden werden alle mit den zuvor identifizierten, erklärenden Variablen möglicher Modellkombinationen geschätzt, wobei die Sozialausgabenquote die abhängige Variable darstellt. Diese hohe Anzahl geschätzter Modellkombinationen erlaubt es in einem zweiten Schritt, die Verteilung der geschätzten Koeffizienten der einzelnen erklärenden Variablen zu untersuchen. Bei der Methode der Extremwertanalyse wird beispielsweise eine Variable als robuste Determinante identifiziert, wenn mindestens 95% aller geschätzten Koeffizienten das gleiche Vorzeichen haben.

Durch diese statistische Analyse werden 17 aus den 30 Variablen identifiziert, die gemäss einer der beiden Methoden als robuste Determinanten gelten. Davon wiederum werden neun Variablen identifiziert, die gemäss beiden Methoden als robust gelten. Grafik G 4 zeigt den Durchschnitt der Koeffizienten über alle geschätzten Modelle für die durch eine Methode als robust ermittelten Variablen. Die Koeffizienten werden mit der Standardabweichung der erklärenden Variablen standardisiert, um sie untereinander vergleichen zu können.

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