Gastbeitrag: Viel mehr als eine Frage von Lohndiskriminierung

Die Debatte über Geschlechterunterschiede auf dem Arbeitsmarkt fokussiert oft auf Lohnunterschiede. An der KOF Prognosetagung plädierte Soziologieprofessor Ben Jann dafür, auch gesellschaftliche Mechanismen und Stereotype zu betrachten. In diesem Gastbeitrag präsentiert er einige Forschungserkenntnisse dazu.

Die Geschlechter haben sich hinsichtlich ihrer Erwerbspartizipation (also dem Anteil Personen im Erwerbsalter, die erwerbstätig sind oder eine Arbeit suchen) in den letzten Jahrzehnten deutlich angeglichen. Trotzdem nehmen Frauen und Männer nach wie vor stark unterschiedliche Rollen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt wahr. Frauen arbeiten sehr viel häufiger Teilzeit, haben öfter Erwerbsunterbrüche (zum Beispiel aus familiären Gründen), sind seltener in leitenden Positionen zu finden, konzentrieren sich stark auf andere Berufsfelder als Männer, haben häufiger eine ausgeprägte Doppelbelastung in Haushalt und Beruf zu bewältigen und erreichen auch unter Berücksichtigung von Qualifikationsniveau und anderen relevanten Faktoren durchschnittlich geringere Löhne als Männer.

Wieso halten sich diese hartnäckigen Unterschiede? Wieso sind Frauen nach wie vor schlechter in den Arbeitsmarkt integriert als Männer? Wieso sind Frauen beruflich weniger erfolgreich als Männer? Die öffentliche Diskussion und politischen Massnahmen konzentrieren sich stark auf die geschlechtsspezifischen Lohnunterschiede. Ein enger Fokus auf Lohndiskriminierung greift jedoch zu kurz.

Es geht nicht nur unmittelbar darum, ob und inwieweit Frauen durch Arbeitgebende anders behandelt werden als Männer. Es geht um viel grundsätzlichere gesellschaftliche Mechanismen in Zusammenhang mit sozialen Normen, stereotypen Rollenvorstellungen, genderspezifischer Sozialisation, strukturellen Sachzwängen und geschlechtsspezifischen Selbstkonzepten, die einen Einfluss auf die Stellung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt ausüben. Ein umfangreicher Fundus an wissenschaftlichen Studien aus unterschiedlichen Disziplinen weist auf eine Vielzahl von Situationen hin, in denen ein «Gender Bias» auftreten und das Handeln der beteiligten Akteure beeinflussen kann.

Frauen werden für Rolleninkongruenz abgestraft

Beispielsweise werden Männern eher Eigenschaften wie etwa Ehrgeiz und Durchsetzungskraft zugeschrieben, die als Voraussetzung für eine Führungsposition gelten. Frauen hingegen werden sogar tendenziell für ihre Rolleninkongruenz abgestraft, wenn sie wider Erwarten solche Eigenschaften aufweisen. In eine ähnliche Richtung weisen Befunde, nach denen Frauen zwar tatsächlich weniger über ihren Lohn verhandeln, ihnen aber ein Nachteil erwachsen kann, wenn sie die soziale Norm brechen und es doch tun. Weiterhin haben Frauen eher mit Unverständnis und Missbilligung zu rechnen als Männer, wenn sie sich dafür entscheiden, kinderlos zu bleiben, und gleichzeitig bestehen tief verankerte Rollenvorstellungen, nach denen es selbstverständlich ist, dass die Mutter einen grösseren Teil der Kinderbetreuung übernimmt als der Vater. Gerade hinsichtlich der Aufteilung der Rollen in Familie und Beruf gibt es selbstverstärkende Mechanismen, die es schwierig machen, aus traditionellen Modellen auszubrechen: Für viele Paare ist es aufgrund der genderspezifischen Prägung des Arbeitsmarkts ökonomisch rational, sich auf das Modell «Ernährer mit zuverdienender Ehefrau» zu einigen.

Viele Hinweise aus unterschiedlichsten Bereichen gibt es auch dafür, dass erbrachte Leistungen von Frauen und Männern unterschiedlich bewertet werden: Frauen müssen tendenziell mehr leisten, um ernst genommen zu werden – von anderen wie auch von sich selbst. Es geht nämlich nicht nur um die Fremdwahrnehmung und die Behandlung durch andere, auch Selbstkonzepte und eigene Wünsche und Präferenzen sind durch gesellschaftliche Normen geprägt. So sind die weiterhin sehr stark ausgeprägten, geschlechtsspezifischen Präferenzen für unterschiedliche Berufe und Studienfächer kaum anhand genetischer Dispositionen zu erklären. Gleichzeitig gibt es Befunde, nach denen Berufe umso stärker entwertet werden, je mehr sie eine «weibliche» Konnotation aufweisen.

Den Männern wird eine «Heiratsprämie» zugestanden

Zwei weitere Beispiele aus der jüngsten Forschung der Universität Bern sind aufschlussreich. Anhand eines experimentellen Designs wurde das Einkommen fiktiver Personen durch die Teilnehmenden einer schweizweiten Befragung bewertet (N = 1912). Dabei wurden u.a. das Geschlecht und der Familienstand der beschriebenen Personen variiert. Insgesamt ergibt sich ein substanzieller Unterschied im «gerechten» Einkommen für Frauen und Männer im Umfang von knapp 6%. Wie ist dieser Unterschied zu erklären?

Die Vorstellungen, die sich die Befragten über die Rollen der beschriebenen Personen im Haushalt machen, scheinen relevant zu sein: Werden die Resultate danach aufgeteilt, ob die beschriebene Person alleinstehend oder verheiratet ist, zeigt sich, dass nur bei den Verheirateten ein Unterschied gemacht wird. Den Männern wird also in Antizipation ihrer Ernährerrolle eine «Heiratsprämie» zugestanden, den Frauen jedoch nicht. Dies zeigt, wie stark genderstereotype Rollenbilder in unseren Köpfen verankert sind.

Das zweite Beispiel bezieht sich darauf, ob der Frauenmangel bei den MINT-Fachkräften teilweise darauf zurückzuführen ist, dass Frauen ihre eigenen Mathematikkompetenzen zu tief einschätzen. Eine Stichprobe von rund 22 000 Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse nahm im Jahr 2016 im Rahmen des Projekts zur Überprüfung der Grundkompetenzen der Schweizerischen Konferenz der Kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) an Leistungstests im Fach Mathematik teil. Die Schülerinnen und Schüler wurden zudem u.a. danach befragt, wie sie ihre eigenen Mathematikfähigkeiten einschätzen und was für einen Beruf sie mit 30 wahrscheinlich ausüben werden. Klassifiziert man die Berufe mit 30 danach, ob sie im Bereich der MINT-Fachkräfte liegen oder nicht, sieht man eine ausgeprägte Geschlechterdifferenz: bei den männlichen Jugendlichen sind es 19%, bei den weiblichen Jugendlichen nur gerade 2.7%.

Den Stereotypen gezielt entgegenwirken

Gleichzeitig zeigt sich – in Einklang mit dem weitverbreiteten Vorurteil einer unterschiedlichen Begabung der Geschlechter für Mathematik –, dass die weiblichen Jugendlichen ihre mathematischen Fähigkeiten auch bei identischen Testleistungen deutlich tiefer einschätzen als die männlichen Jugendlichen. Dies erklärt einen substanziellen Teil der Geschlechterdifferenz in den MINT-Aspirationen. Gemeinsam erklären die Unterschiede in den Leistungstests und den Selbsteinschätzungen 26% der Differenz, wobei 45% davon auf die tatsächlichen Leistungsunterschiede entfallen (die auch bereits eine Folge von genderspezifischen Rollenerwartungen sein können) und 55% auf die unterschiedliche Selbsteinschätzung. Das Beispiel zeigt, dass genderstereotype Vorstellungen einen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung haben können und dies durchaus handlungsrelevant sein kann.

Soll eine Gleichstellung der Geschlechter auf dem Arbeitsmarkt erreicht werden, genügen Massnahmen wie die periodische Überprüfung von Lohndiskriminierung in grösseren Unternehmen wahrscheinlich nicht. Wichtiger erscheint, dass wir unsere Vorstellungen, die wir von Frauen und Männern sowie ihren Rollen in der Gesellschaft haben, hinterfragen und versuchen, den Stereotypen und auch den aus dem bisherigen gesellschaftlichen Modell erwachsenen strukturellen Zwängen gezielt entgegenzuwirken. Ergebnisse etwa zu «blind auditions» (in amerikanischen Orchestern) oder Rollenvorbildern als Folge von Frauenquoten (in der indischen Lokalpolitik) zeigen, dass es durchaus Ansatzpunkte gibt, um nachhaltige Veränderungen zu bewirken.

Literatur

Jann, Ben, Barbara Zimmermann und Andreas Diekmann (2019): Gerechte Löhne für Frauen und Männer. Ergebnisse von drei Experimenten. Universität Bern, mimeo (auf Anfrage erhältlich).

Jann, Ben und Sandra Hupka-Brunner (2019): Warum gibt es einen Frauenmangel bei den MINT-Fachkräften? Zur Bedeutung der Differenz zwischen mathematischen Kompetenzen und Selbstkonzept. Universität Bern, mimeo (auf Anfrage erhältlich).

Kontakt

Prof. Dr. Ben Jann

Universität Bern
Institut für Soziologie

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