Rekordtiefe Arbeitslosigkeit – oder doch nicht?

«Die Arbeitslosigkeit in der Schweiz fällt auf das Niveau von 2008» – diese und ähnliche Meldungen machten die Runde, nachdem das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) im Juni seine neusten Arbeitslosenzahlen präsentierte. Leider sieht es auf dem Arbeitsmarkt aber (noch) nicht so rosig aus wie Anfang 2008. Die neuen Arbeitslosenzahlen sind nicht mit den damaligen Zahlen vergleichbar.

Gemäss den neusten Arbeitslosenzahlen des SECO befindet sich der Schweizer Arbeitsmarkt in beneidenswerter Verfassung. Wie Grafik G 1 zeigt, lag die saisonbereinigte Arbeitslosenquote bei fast 2.5%. Das ist der tiefste Wert seit Anfang 2008, als sich die Schweizer Wirtschaft am Ende einer lang anhaltenden wirtschaftlichen Boomphase in sehr guter Verfassung befand. Allein zwischen den Monaten März und Mai dieses Jahres reduzierte sich die gesamtschweizerische Arbeitslosenquote saisonbereinigt von 2.9% auf 2.6%. Entsprechend positiv kommentierte die Schweizer Medienlandschaft die neuen Zahlen. «Arbeitslosigkeit so tief wie seit zehn Jahren nicht mehr», titelte etwa der Blick. Leider sind die tatsächlich sehr tiefen Arbeitslosenzahlen nicht mit jenen vergleichbar, die vor zehn Jahren veröffentlicht wurden.

Grafik 1 Quote der registrierten Arbeitslosen gemäss SECO, saisonbereinigt

Verschärfungen bei der Arbeitslosenversicherung senken Arbeitslosigkeit

Das hat zwei Gründe. Einer ist die Reform der Arbeitslosenversicherung im März 2011. Um die Arbeitslosenversicherung zu sanieren, reduzierte die Reform die Generosität der Arbeitslosenversicherung für verschiedene Bevölkerungsgruppen. So wurde etwa der maximale Anspruch auf Arbeitslosentaggeld von kinderlosen Stellensuchenden unter 25 Jahren halbiert und für Studienabgänger wurde eine besondere Wartefrist eingeführt, um die Schwelle der Anmeldung beim RAV zu erhöhen. Diese Anpassungen beeinflussen die Arbeitslosenzahlen gemäss SECO, weil in den Zahlen nur jene Personen enthalten sind, die sich im Falle von Arbeitslosigkeit auch bei einem regionalen Arbeitsamt melden. Die Reform verringerte für einige Bevölkerungsgruppen den Anreiz, sich beim RAV zu melden. Zudem verloren wegen der verkürzten Bezugsdauer viele Langzeitarbeitslose ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld und wurden deshalb ausgesteuert. Diese «Ausgesteuerten» verschwinden in den meisten Fällen aus der Arbeitslosenstatistik des SECO.

Wie beeinflusste die Reform die gemessene Arbeitslosigkeit? Um sich der Antwort auf diese Frage zu nähern, kann betrachtet werden, wie viele Personen wegen der Umstellungen ausgesteuert wurden. Im März 2011 wurden rund 16 000 Langzeitarbeitslose ausgesteuert – ungefähr 12 500 Arbeitslose mehr als in den Monaten davor und danach. Nimmt man diese Zahl als Anhaltspunkt, so reduzierten die Gesetzesänderungen die ausgewiesene Arbeitslosigkeit permanent um gut 0.2 Prozentpunkte1.

Personen in Beschäftigungs- und Weiterbildungsprogrammen zählen nicht als arbeitslos

Die neuen Zahlen zur registrierten Arbeitslosigkeit können auch deshalb nicht direkt mit jenen von 2008 verglichen werden, weil das SECO im März dieses Jahres die Aufbereitung der Arbeitslosendaten umgestellt hat. Bei der Aufbereitung werden Personen, die sich bei einem Arbeitsamt registrieren, in «arbeitslose» und «nicht arbeitslose» Stellensuchende eingeteilt. Diese Zuteilung wird vorgenommen, da gemäss internationaler Praxis nur jene Personen zu den Arbeitslosen zählen, die auch in kurzer Frist für die Aufnahme einer neuen Tätigkeit verfügbar wären. Eine relativ grosse Zahl von Personen, die sich bei einem RAV melden, zählen daher nicht zu den Arbeitslosen. Dazu gehören etwa Stellensuchende, die aktiven Arbeitsmarktmassnahmen – beispielsweise einem Beschäftigungsprogramm oder einer Qualifizierungsmassnahme – zugeteilt wurden, oder Personen, die nach einer Kündigung Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, aber deren Kündigungsfrist noch nicht abgelaufen ist. Die Einteilung in arbeitslose und nicht arbeitslose Stellensuchende basierte bisher auf den Einträgen der Mitarbeiter der Arbeitsämter. Neu teilt das SECO die Stellensuchenden semiautomatisch den arbeitslosen und nicht arbeitslosen Stellensuchenden zu. Mit dieser Praxisänderung erhöht sich die Aussagekraft der Arbeitslosenzahlen, da die Eintragungen verlässlicher erfolgen.

Technische Umstellungen reduzieren ausgewiesene Arbeitslosigkeit

Wie hätten sich die Arbeitslosenzahlen in den letzten drei Monaten entwickelt, wenn die Erfassungspraxis nicht geändert worden wäre? Auch hierauf lässt sich keine genaue Antwort geben, weil Erfahrungen mit dem neuen System fehlen. Gewisse Einsichten liefert aber die Entwicklung der registrierten Stellensuchenden zwischen März und Mai. Denn die Praxisänderung dürfte vor allem die Zuteilung der Stellensuchenden in arbeitslose und nicht arbeitslose Stellensuchende tangiert haben, nicht aber die Gesamtzahl der Stellensuchenden. Grafik G 2 stellt die Entwicklung der Zahl der registrierten Arbeitslosen der Zahl der registrierten Stellensuchenden gegenüber. Die Grafik zeigt die absolute Veränderung der saisonbereinigten Zahlen im Vergleich zum Vormonat. Sie illustriert vorderhand, dass sich die beiden Reihen im Normalfall sehr ähnlich entwickeln. Dies trifft aber nicht für die letzten drei Monate zu. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen verringerte sich in diesen drei Monaten um gut 16 000 Personen: 6000 Personen im März und je rund 5000 Personen im April und Mai. Im gleichen Zeitraum nahm die Zahl der registrierten Stellensuchenden saisonbereinigt hingegen nur um gut 4500 Personen ab. Nimmt man diese Zahlen zum Nennwert, sind ungefähr 2/3 des Rückgangs der Arbeitslosigkeit in den letzten drei Monaten auf die Änderung der Erfassungspraxis zurückzuführen. Gemäss dieser einfachen Schätzung würde die Arbeitslosenquote heute 0.15 bis 0.3 Prozentpunkte höher liegen, wenn die Systemanpassung nicht vorgenommen worden wäre. Anzumerken ist, dass im Juni weitere Anpassungen in der Erfassungspraxis geplant sind, welche die Arbeitslosenzahlen wieder leicht erhöhen werden. Diese Anpassungen dürften somit den Einfluss der Systemumstellung wieder etwas verringern.

Grafik Entwicklung registrierte Arbeitslose vs. Stellensuchenden

Arbeitslosenquote gemäss ILO korrigiert zu rosiges Bild des Arbeitsmarktes

Ohne die Änderungen bei der Arbeitslosenversicherung und die technischen Umstellungen bei der Messung der Arbeitslosenzahlen wäre die ausgewiesene Arbeitslosigkeit heute höher. Gemäss unseren Überschlagsrechnungen läge die Arbeitslosenquote saisonbereinigt zwischen 3.0 und 3.2% – also ungefähr einen halben Prozentpunkt höher, als sie es gemäss den heutigen Zahlen tut. Dass es auf dem Arbeitsmarkt trotz eines guten Starts ins neue Jahr noch viele Personen gibt, die auf Arbeitssuche sind, zeigen auch die Arbeitslosenzahlen gemäss der Statistik der International Labor Organization (ILO), die in der Schweiz als Erwerbslosenstatistik bekannt ist. Im Gegensatz zur Statistik der registrierten Arbeitslosen des SECO erfasst diese Statistik auch Arbeitslose, die nicht bei einem Arbeitsamt registriert sind. Diese verharrte im ersten Quartal 2018 bei saisonbereinigt beinahe 5% und reduzierte sich in den letzten Quartalen kaum. Eine Arbeitslosenquote in dieser Höhe ist für die Schweiz im historischen Vergleich recht hoch. Die starke Beschäftigungszunahme im ersten Quartal 2018 lässt allerdings auf einen tatsächlichen Rückgang der Arbeitslosigkeit in den nächsten Monaten hoffen.

1 Es könnte sich bei diesem Effekt nicht um einen permanenten, sondern temporären Effekt handeln, wenn die Reform der Arbeitslosenversicherung das Verhalten von neuen Arbeitslosen – insbesondere deren Sucherfolg – beeinflusst hätte. Dies scheint aber gemäss einer Studie von Arni und Schiprowski (2016) nicht der Fall gewesen zu sein.

Literatur

Patrick Arni und Amelie Schiprowski (2016): Evaluation der AVIG-Revision 2011 (Taggelder für Junge, Sanktionierungen). Analyse der Wirkung von Suchvorgaben der Arbeitsbemühungen. In: SECO Publikation Arbeitsmarktpolitik No. 44 (10. 2016), Bern.

Kontakt

Dr. Michael Siegenthaler
Dozent am Departement Management, Technologie und Ökonomie
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  • +41 44 633 93 67

KOF Konjunkturforschungsstelle
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